Martin Schulz – bedingungslos für soziale Gerechtigkeit?

In den eigenen Reihen war Merkel alternativlos. Doch dann tauchte aus dem viel beklagten zähen Einheitsbrei der geschrumpften Volksparteien eine ernsthafte Alternative auf: Martin Schulz. Sigmar Gabriel übergab ihm mit samt der Kanzlerkandidatur auch die Parteiführung und rettete sich auf das frei gewordene beliebte Auswärtige Amt. Das war zwar entgegen der überschwänglichen Lobpreisungen seiner Parteigenossen keinesfalls ein selbstloser Akt Gabriels. Aber es war klug, die letzte Abfahrt vor der Grenzüberschreitung noch wahrzunehmen.

Sieben erfolglose Jahre als Parteivorsitzender reichen. Schulz ist seit Jahren einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Doch weil sein Parkett Brüssel war und nicht Berlin, ist er bei bundespolitischen Themen ein noch recht unbeschriebenes Blatt. Er hat jetzt die Chance, das richtige Bild darauf zu malen. Und er scheint sie zu nutzen. Jedenfalls gehen die ersten Punkte im begonnenen Wahlkampf eindeutig an den Heimkehrer aus Brüssel. Fast täglich werden neue Umfrageergebnisse veröffentlicht, nach denen Martin Schulz und seine SPD an Zustimmung gewinnen. Nach einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa hat die SPD jetzt die CDU/CSU sogar überholt und würde 31% der Wählerstimmen, ein Prozentpunkt mehr als die Unionsparteien, bekommen.

Schwerpunkt „soziale Gerechtigkeit“

Auch wenn noch fast keine inhaltlichen Details zum Wahlprogramm bekannt sind, hat Schulz in einem ersten Statement den inhaltlichen Schwerpunkt festgelegt: Soziale Gerechtigkeit. Es klingt vielleicht nicht besonders originell, wenn ein Sozialdemokrat für soziale Gerechtigkeit plädiert. Und dennoch halte ich diesen Aufschlag für ein Ass, weil Schulz auf diese Weise dem Thema wieder eine klare Priorität einräumt – eine Priorität, die längst überfällig war. Soziale Gerechtigkeit ist der Schlüssel zu einer freiheitlichen und friedlichen Gesellschaft. Sie darf gerade in Zeiten des aufschäumenden Populismus keine Nebenrolle mehr spielen, sondern muss voll ins Rampenlicht gezogen werden. Das hat Schulz offenbar verstanden. Und welche Partei könnte sich denn aufgrund ihrer Tradition diesen Schwerpunkt glaubhafter zu eigen machen als die Sozialdemokratische Partei Deutschlands?

Bleibt die Frage, was inhaltlich konkret unter dem verheißungsvollen Begriff „soziale Gerechtigkeit“ verstanden werden darf, und was Martin Schulz mit seiner SPD daraus machen wird. Den Andeutungen, die vom neuen SPD-Vorsitzenden bislang zu hören waren, sollen jetzt bereits die ersten handfesten Taten folgen – entweder noch in dieser Legislaturperiode, falls die Union mitspielt, oder in einer von der SPD geführten nächsten, falls sie das schafft.

Abgehobene Managergehälter

Schulz kritisiert in seinen aktuellen Reden die Kluft zwischen abgehobenen Managergehältern und den Löhnen einfacher Arbeiter und Angestellter. Er will daher für eine gesetzliche Begrenzung sorgen. Eine Kritik, der ich im Grundsatz zustimme, wenn man bedenkt, wie groß diese Kluft zuweilen ist. Ich habe meine Haltung bereits im März 2012 in der Kolumne „Jedes Jahr den Jackpot“ begründet. Ohne hier ins Detail gehen zu können, hatte ich seinerzeit geschätzt, dass der damalige WV-Chef Winterkorn ungefähr das 350-fache eines Facharbeiters des Konzerns bekommt und dargelegt, warum man eine solche Differenz weder mit Leistung noch mit Marktwirtschaft rechtfertigen kann. Ein paar Jahre später lieferte VW mit dem Dieselskandal die empirische Bestätigung für meine Kritik. (siehe/höre hierzu auch meine Kolumne „Die Unantastbaren – Verantwortung ohne Haftung?“ vom 10.01.2017: www.soundcloud.com/drstefankaletsch/die-unantastbaren-verantwortung-ohne-haftung)

Das Thema Spitzengehälter ist wichtig. Doch es wird hoffentlich nicht zum Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung im Kampf um „soziale Gerechtigkeit“. Ich werde die von der SPD geplanten gesetzlichen Korrekturen und die zum Teil unangebrachte Kritik daran an anderer Stelle diskutieren. Doch ungeachtet der Relevanz und Berechtigung muss Schulz aufpassen, dass sich nicht der Vorwurf seitens der Union und wirtschaftsnaher Verbände, er wolle seinen Wahlkampf mit einer populistischen Neiddebatte führen, verfestigt.

Chancengleichheit durch eine gute Startposition

Es gibt noch genügend andere Ansätze zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit, um die man sich ernsthaft kümmern müsste. Ihnen sollte Schulz jetzt stärkere Beachtung schenken. An erster Stelle steht die Annäherung an eine echte Chancengleichheit – soweit sie denn realisierbar ist. Hier geht es vor allem um eine diskriminierungsfreie Bildungsförderung, aber auch um Gesundheitspolitik. Mit diesem Ansatz würde man auch anerkannten sozialphilosophischen und wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen folgen. Insbesondere bei dem Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen (1933-), der mit seinem „Befähigungsansatz“ auf der berühmten „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls (1921-2002) aufbaut, hat die Chancengleichheit und die daraus abgeleitete Verpflichtung, jedem Gesellschaftsmitglied eine gute Startposition zu gewährleisten, absolute Priorität. Allein die Einführung einer echten Ganztagsschule, in der die unterschiedliche soziale Herkunft die geringstmögliche Rolle spielt und wo für eine gute Ernährung ebenso wie für ausreichend Sport gesorgt wird, wäre eine vielversprechende Maßnahme im Sinne dieses Ansatzes.

Immer wichtiger wird auch die Förderung von bezahlbarem Wohnraum. Hat nicht jeder Bürger ein Anrecht auf ein paar Quadratmeter Schutz- und Rückzugsraum? Eine Mietpreisbremse beseitigt leider noch nicht den wachsenden Mangel. Da braucht es andere Programme. Und nicht zuletzt verdient das Steuerreförmchen der Großen Koalition noch längst nicht das Prädikat „sozial gerecht“. Dafür sind erstens deutlich höhere Freibeträge, zweitens eine stärkere Entlastung des Mittelstandes und der Familien mit Kindern, drittens eine stärkere Belastung von wirklich hohen Einkommen und schließlich eine deutliche Steigerung des Spitzensteuersatzes für außerordentlich hohe Einkommen nötig.

Auch über eine kleine eingeschränkte, meinetwegen zeitlich begrenzte Besteuerung hoher Privatvermögen muss aufgrund der steigenden Vermögenskonzentration diskutiert werden. Und Einkommen aus Kapital darf nicht länger geringer besteuert werden als Einkommen aus Arbeit. So jedenfalls müsste es eine SPD sehen, die sich auf alte Ideale besinnt. Was Hartz IV angeht, so sehe ich jedoch keine Verpflichtung zur Rückabwicklung, auch wenn es in vielerlei Hinsicht noch keine befriedigende Lösung darstellt. Statt die Zeit zurück zu drehen, sollte man sich aber lieber für ein modernes Sozialstaatsmodell stark machen, das eine überbordende Bürokratie, entwürdigende Behördengänge und willkürliche Einzelentscheidungen, die nun einmal mit einer selektiven Vergabe von Sozialhilfe verbunden sind, komplett beseitigt: Das bedingungslose Grundeinkommen.

Das „bedingungslose Grundeinkommen“

Dieses Modell, wonach jeder Bürger ohne Gegenleistung vom Staat ein geringes Grundeinkommen, von dem man notfalls leben kann, ausgezahlt bekommt, gilt keinesfalls mehr als unbezahlbare Spinnerei. Es stand in der Schweiz sogar schon einmal zur Volksabstimmung und läuft in einem Teilgebiet Finnlands derzeit probe. Das Thema, welches immer mehr Zuspruch und Beachtung findet, ist in der deutschen Parteienlandschaft noch nicht klar verortet. Es könnte außer von der SPD theoretisch von den Grünen ebenso vereinnahmt werden wie von Linken.

Interessanterweise könnten selbst die bürokratieskeptischen Freidemokraten einen Zugang zum bedingungslosen Grundeinkommen finden. Der als streng neoliberal geltende Sozialphilosoph und wirtschaftswissenschaftliche Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek (1899-1992) schrieb in seinem Buch „Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit“ (1976), dass der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ in Zusammenhang mit einer Marktwirtschaft in die Kategorie des Unsinns gehöre. Da die Marktwirtschaft anders als eine Zentralplanwirtschaft so angelegt sei, dass es keine Instanz gebe, die Einkommen verteilt, könne man diesbezüglich auch keine moralischen Maßstäbe ansetzen, gleichgültig welche Ergebnisse sie hervorbringe. Hayek lehnte im Prinzip jeden staatlichen Eingriff in Marktprozesse strikt ab. Statt anmaßender, willkürlicher Marktkorrekturen aber sollten alle Bürger eine vom Markt losgelöste Grundsicherung erhalten. Das verträgt sich erstaunlich gut mit dem Konzept eines bedingungslosen Grundeinkommens.

Die Unionsparteien sind die einzige Fraktion, zu deren Grundhaltung dieses Konzept gar nicht passt. Das würde schon allein an Schäuble und Seehofer scheitern. Um so mehr würde sich ein Bekenntnis der SPD zum bedingungslosen Grundeinkommen dazu eignen, sich wieder klar als eigenständige Volkspartei abzugrenzen. Dazu gehört allerdings Selbstbewusstsein und Mut. Die Gegenläufigkeit von Risiko und Chance gilt eben nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im politischen Wettbewerb. Wir werden sehen, wie kühn das Wahlprogramm von Schulz und seiner SPD aussehen wird. Angst ist – so glaube ich jedenfalls – auch hier kein guter Ratgeber.

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