The Rakes Progress (Boris Johnsons Laufbahn)

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In Stravinskys einziger Oper „The Rakes Progress“ (Die Laufbahn eines Wüstlings) scheitert der Protagonist Tom Rakewell an seinem schlechten Charakter und der Verführung des Teufels durch eine große Erbschaft. Tom endet im narzisstischen Wahn, Adonis zu sein, im Irrenhaus, wo er schließlich stirbt.

Boris Johnson ist gewiss nicht Tom Rakewell. Und den Teufel in Persona gibt es nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen auch nicht. Doch die Botschaft der Geschichte findet auch in der Laufbahn von Johnson stellenweise ihre Anwendung. Seine bisherige Karriere bietet vielleicht auch einen speziellen Einblick in das Selbstverständnis der britischen Politiker.

Die Briten sind schon ein Volk für sich. Seit dem Brexit gilt das wohl wortwörtlich. Die größte Verantwortung für den äußerst zweifelhaften Austritt aus der Europäischen Union trägt der ehemalige Premierminister Boris Johnson. Bereits während der Phase der Volksabstimmung zu diesem historisch bedeutenden Schritt wurde Johnson der Verbreitung vieler Lügen unter der britischen Bevölkerung überführt. Und folgerichtig brachte der Austritt am Ende auch nicht die versprochene Heilsamkeit für die Inselbewohner. Dennoch ging das Parlament recht pfleglich mit dem Flegel um. Jetzt bestraft es den blonden Selbstdarsteller, der sein Haar gewiss nicht aus modischen Gründen stets wie ein Lausbub frisiert. Doch die beschlossene 90-Tage-Suspendierung vom Parlament, der er kurzfristig mit einem Rücktritt als Abgeordneter zuvorkam, hat rein gar nichts mit dem Brexit zu tun. Johnson ist – wenn man so will – ein „Opfer“ der Pandemie geworden.

Der Mann, der sich gerne als Stimme des Volkes präsentiert, predigte während des Corona-Lockdowns Wasser und trank selbst Wein. So etwas kommt bei den Briten nicht gut an und hat wenig mit einem Mann des Volkes zu tun. Johnson verstieß mit einigen seiner Kollegen gegen die von ihm verhängte Vorschrift, auf die ausgelassene Zusammenkunft von Menschen vorübergehend zu verzichten, um dem Virus den Garaus zu machen. Zurecht wuchs der Druck der Bevölkerung auf den zynischen Blondschopf, der schließlich sein Amt als Premier wegen dieser so genannten „Partygate“-Affäre aufgeben musste.

Doch obwohl das eine zunächst angemessene Konsequenz für einen derart kaltschnäuzigen Vertrauensbruch war, wurde die Partygate-Affäre damit nicht beendet. Erst in einem langen Nachgang wies ihm ein Parlamentsausschuss nun offiziell nach, dass er sogar das Parlament belogen hat. Das war dann anscheinend zu viel des Bösen. Dafür mussten jetzt die britischen Parlamentarier dem Lausbuben nochmal die Ohren langziehen.

Erfreulich an der Geschichte des Lügenbarons ist, dass die britische Politik-Elite anscheinend sich noch so etwas wie einen Ehrenkodex bewahrt hat, und Lügen zudem kurze Beine haben. Doch bei näherem Hinschauen stolpert man über die Prioritäten, die die Gentlemen – und natürlich auch Gentlewomen – der britischen Upperclass gesetzt haben. Ehrlichkeit gegenüber dem Volk scheint da ganz unten zu stehen. Offensichtliche Lügen wurden im Fall Johnson sogar mit der Eroberung des ersten Amts im Staat belohnt.

Einverstanden: Der anschließende unehrenhafte Verlust dieses Amtes aufgrund einer, beziehungsweise mehrerer Verstöße kann man noch als konsequente Bestrafung verstehen. Doch bleibt auch hier die Frage, warum man einem solchen Lausbuben weiter die Gelegenheit gab, die Geschicke des Landes im ehrenwerten Haus weiter mitzubestimmen. Erst der offizielle Befund, dass Johnson sogar die Dreistigkeit besaß, selbst Seinesgleichen zu belügen, führte zum Beschluss, ihn zumindest zeitweilig aus dem erlauchten Kreis auszuschließen. Da klingt für mich eine Portion kollektiver Narzissmus mit: Das Volk darf man schon belügen, aber das hohe Haus niemals. Eine typisch narzisstische Reaktion ist die Rache. Das Parlament zu belügen, kommt einer Majestätsbeleidigung gleich. Das muss gerächt werden. Hier trifft Narzissmus auf Narzissmus.

Ich will die parlamentarische Rache – wenn man sie denn so nennen will – gar nicht verurteilen. Im Gegenteil. Ein Zeichen für einen ehrlichen Umgang in der politischen Klasse zu setzen, halte ich für dringend geboten – nicht nur in Großbritannien. Doch erst bei eigener Betroffenheit angemessen darauf zu reagieren, hat etwas Scheinheiliges und seinen Ursprung vielleicht eher im Gefühl der persönlichen Beleidigung als in der Verletzung eines ethischen Grundwertes.

Der abgestrafte Lausbube fühlt sich natürlich ungerecht behandelt und redet im Jargon seines Vorbilds Donald Trump sogar von einer Hexenjagt. Vielleicht ist ja auch da ein Fünkchen Wahrheit dran. Nicht, dass es ungerecht ist, Lügner und Betrüger zu bestrafen, sondern, dass man dieses Vergehen in der Politik gerne nur dann ahndet, wenn es einem strategischen Zweck dient. Für Mitleid reicht es bei mir dennoch nicht – jedenfalls nicht in der Causa Johnson. Sollte er tatsächlich am kollektiven Narzissmus des Parlaments gescheitert sein, dann ist das die Ironie des Schicksals eines Mannes, der sich selbst in narzisstischer Weise stets überhöhte.

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