Ein Dilemma demokratischer Spielregeln

Das Ergebnis der Berliner Senatswahl lieferte einen unerwartet hohen Sieg der CDU. Das hört sich zunächst unabhängig von allen Inhalten der Parteien nicht problematisch an. Wer die meisten Stimmen auf sich vereint, so eine Grundregel der Demokratie, darf die Regierung stellen. Nun ist es aber so, dass es in Deutschland mittlerweile keine Partei mehr schafft, mehr als 50 Prozent aller Wähler hinter sich zu vereinen. Auch das ist, wie jeder weiß, nicht zwingend ein Problem in einer repräsentativen Demokratie. Bei der letzten Berliner Wahl haben es die drei linksorientierten Parteien SPD, Grüne und die Linke hinbekommen, eine Regierungskoalition zu bilden und damit insgesamt einen Wähleranteil von rund 54% zu repräsentieren. Die stärkste Partei – sowohl in der Gesamtschau als auch unter den Koalitionsparteien – war die SPD, die damit das eindeutige Mandat erhielt, die regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey, zu stellen.

Nun verordnete bekanntlich nach eineinhalb Jahren das Verfassungsgericht aufgrund eines chaotischen Ablaufs der Wahl 2021 eine Wiederholung des Urnengangs. Man hätte vermuten können, dass innerhalb der kurzen Regierungszeit sich nicht allzu viel geändert hat in den Präferenzen der Wähler. Doch es kam anders. Die CDU steigerte ihr Ergebnis um etwa 10 Prozentpunkte, ein ungewöhnlich hoher Zuwachs von 55%, während die SPD drei Prozentpunkte verlor, ein Verlust von 10 Prozent ihrer vormaligen Wähler. Die FDP schaffte es zudem nicht mehr über die 5%-Hürde, was ebenfalls die Verteilung der Sitze beeinflusst. SPD und Grüne haben im neuen Senat gleich viele Sitze. Und nur weil die SPD gut 100 Wahlstimmen mehr bekam, könnte die regierende Bürgermeisterin auch eine Fortführung ihres Amtes beanspruchen.

Trotz dieser deutlichen Verschiebungen ist eine Fortsetzung der bisherigen Koalition unter der Führung von Giffey am wahrscheinlichsten. Das verhindert gleichzeitig, dass die stärkste Fraktion im neuen Senat an einer Regierung beteiligt wird und den regierenden Bürgermeister stellt. Rechtlich wäre das vollkommen korrekt, da die mehrparteiliche Zusammensetzung von Mehrheitsverhältnissen nach unserem Wahlrecht zulässig und letztendlich durch das Prinzip der Repräsentanz gerechtfertigt ist. Dennoch widerspräche es der Erwartung, dass der klare Wahlsieger die Regierungsgewalt erlangt. Hier treffen zwei sich widersprechende demokratische Prinzipien aufeinander. Das eine gereicht zur Rechtfertigung einer Fortführung der Koalition, das andere zu einem Wechsel. Doch ein Wechsel ist nur realisierbar, wenn es der CDU gelänge, entweder die SPD oder die Grünen auf ihre Seite zu ziehen. Das ist unwahrscheinlich, schon allein deswegen, weil beide mit der Aussage, die regierende Koalition fortführen zu wollen, in den Wahlkampf gegangen sind. Handeln sie jetzt anders, werden ihre Wähler mit Enttäuschung reagieren. Und mit jedem Zugeständnis, das sie gegenüber einer dominanten CDU machen müssten, würde die Enttäuschung wachsen. Eine fatale Entscheidungslage. Schließlich geht es nicht nur um Mathematik, sondern vor allem auch um Glaubwürdigkeit. Sie ist von elementarer Bedeutung für eine Demokratie.

Wie könnte das Dilemma aufgelöst werden? Die SPD übt sich zurecht aufgrund des Wahlergebnisses in Demut und kündigt an, bei Fortsetzung der Koalition Änderungen in ihrer Politik vorzunehmen. Doch wenn die Führungsfunktion einer regierenden Bürgermeisterin mehr Bedeutung besitzt als eine freundliche Repräsentanz, so sollte sie nach diesem Wahldebakel zurücktreten. Giffey hat ihr Amt ohnehin mit einer persönlichen Last begonnen, als sie ihren Doktortitel wegen Mogelei zurückgeben musste, großmütig ihr Amt als Bundesministerin niederlegte und sich gleichzeitig unbeirrt für ihr jetziges Amt bewarb (siehe meine Kolumne „Wer bin ich, und was kann ich?“ vom 20.05.2021). Viele Berliner haben damals scheinbar keinen Zusammenhang zu ihrer charakterlichen Eignung als politische Führungspersönlichkeit gesehen. Ein Fehler, wie ich meine. Doch wenn sie selbst nach diesem Wahldebakel die persönliche Karriere in den Vordergrund rückt, sollte das dem ein oder anderen die Augen öffnen. Sie trägt die Hauptverantwortung für die Politik der letzten eineinhalb Jahre und das verlorene Vertrauen vieler Wähler. Es entspricht guten demokratischen Gewohnheiten, daraus die Konsequenz eines Rücktritts zu ziehen. Nur so könnte die SPD und die Berliner Koalition ihre Glaubwürdigkeit bei einer Fortführung noch halbwegs retten.  

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