Sprachhüter sind noch überflüssiger als Denglisch

Da taucht sie plötzlich wieder auf: Eine Liste mit angeblich vermeidbaren Anglizismen, welche die Nordwestzeitung (NWZ) auch in diesem Jahr (Sonnabend, den 12. September 2015) wieder abgedruckt hat. Ich habe das bereits vor drei Jahren, als die NWZ die Liste schon einmal veröffentlichte, in der Kolumne „Denglisch for Runaways“ kritisiert. Die alphabetisch sortierten Wörter mit Alternativvorschlägen, die sich über eine ganze Seite erstrecken, ist wohl eine Auswahl der neuen Ausgabe des Buches  „Der Anglizismen-Index“, an dessen Herausgabe der „Verein Deutsche Sprache“, der „Sprachkreis Deutsch“ aus Bern und der „Verein Muttersprache“ aus Wien beteiligt sind.

Einverstanden, es gibt vor allem in der Werbung, den Schaufenstern und im Geschäftsleben eine Menge überflüssiger, unsinniger und bisweilen falsch verwendeter englischer Begriffe. Andererseits ist es meines Erachtens nicht minder falsch und überflüssig, wenn selbsternannte Sprachhüter die angeblich urdeutsche Sprache vor ihrem Untergang bewahren wollen. Sprache ist eine Institution, die einem permanenten Wandel unterworfen ist. Das galt in der Vergangenheit, und das gilt auch für die Gegenwart und Zukunft. Der Wandel richtet sich erstens nach der Notwendigkeit, neue Begriffe für neue Gegenstände und Sachverhalte finden zu müssen, zweitens nach der Bequemlichkeit der Anwender, die sich möglichst kurz und knapp verständlich machen wollen, und drittens natürlich auch nach Identifikationsbedürfnissen, womit man die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe signalisieren möchte. Wer einen „Anglizismen-Index“ herausgibt und – wie nun wiederholt etwa von der NWZ getan – in den Chor der Hütervereine deutscher Sprache einstimmt, verkennt die dezentrale Dynamik von Sprache, als deren Experten sie sich ausgeben. Schaut man sich nun die Liste, welche der Vermeidung von Denglisch dienen soll, einmal genauer an, gewinnt man allerdings den Eindruck, dass ihre Autoren sich entgegen ihrer Etikette nicht sehr tief mit der Materie befasst haben.

Es dürfte den Deutschhütern eigentlich nicht entgangen sein, dass unsere Sprache randvoll ist mit eingedeutschten fremdsprachlichen Wörtern. Insbesondere kommen – aufgrund der europäischen Geschichte – viele Begriffe aus dem Lateinischen oder Griechischen, manche auch aus dem Französischen. Einige dieser Begriffe sind allerdings so gut eingebürgert, dass ihr „Migrationshintergrund“ kaum noch zu erkennen ist. Und so ist es wohl zu erklären, dass auch die oberflächliche Herangehensweise der Liste-Autoren einige Alternativvorschläge zu den von ihnen kritisierten Anglizismen wiederum selbst nur eingedeutschte fremdsprachliche Begriffe sind, nur eben nicht aus dem Englischen: Das englische „level“ etwa durch das französische „Niveau“ zu ersetzen, macht meines Erachtens ebenso wenig Sinn wie „date“ durch „Rendezvous“. Und was an einem aus dem Lateinischen übernommenen „Termin“ grundsätzlich besser sein soll als das englische „date“, das im übrigen auch nur dem lateinischen „datum“ entlehnt ist, erschließt sich mir ebenso wenig wie die Anmahnung, man solle doch anstatt „easy“ beispielsweise „simpel“, das lateinische Wort für „leicht“, benutzen, das wiederum – wenn auch etwas anders geschrieben – auch im Englischen existiert, aber dort etwas ganz anderes meint. Auch der Vorschlag der Sprachreiniger, man könne anstelle des Anglizismus „uncool“ das Wort „uninteressant“ benutzen, verkennt nicht nur den inhaltlichen Unterschied, sondern übersieht abermals, dass es sich hierbei um eingedeutschtes Latein handelt: „inter“ für „zwischen“ und „esse“ für „sein“ (Interesse zu haben, bedeutet somit, mitten dazwischen zu sein, also voll bei der Sache).

Ich persönlich fand die größte Widersprüchlichkeit der Liste bei dem Wort „Handy“, welches doch bitte „Mobiltelefon“ genannt werden solle. Dabei ist dieses Wort keinesfalls deutscher als die Bezeichnung „Handy“. Man kann sogar das Gegenteil behaupten. Erstens kommt der vordere Teil des Wortes, „Mobil“, aus dem Lateinischen und heißt nichts anderes als „beweglich“. Zweitens setzt sich der hintere Teil „telefon“ aus dem altgriechischen „tele“, für „fern“ und dem lateinischen „fon“ (phon), womit „Ton“ oder „Laut“ gemeint ist, zusammen. Ein „bewegliches Fernlautgerät“ müsste es auf Deutsch also wenn schon denn schon heißen. Klingt lustig, wird sich mit seinen 9 Silben aber gegen ein knackiges zweisilbiges „Handy“ schon aus rein pragmatischen Gründen vermutlich nicht auf der Straße durchsetzen. Drittens ist der Begriff „Handy“ als Bezeichnung für ein Mobiltelefon dem Engländer oder Amerikaner gänzlich unbekannt und eine rein deutsche Erfindung, gewissermaßen also urdeutsch – die Schreibweise mal außer Acht gelassen. Viertens stammt das englische Wort „handy“, was ganz allgemein „handlich“ heißt, letztendlich ohnehin von der deutschen „Hand“ ab. Sein Recycling – oh, Entschuldigung: seine Wiederaufbereitung – für die deutsche Sprache ist also durchaus naheliegend.

Man könnte so weiter machen. Für unsere Zwecke mögen die Beispiele ausreichen. Was kann man daraus schlussfolgern? Richtig, Sprache ist lebendig – zumindest solange sie gesprochen wird. Sprachen können sich im Laufe der Zeit genauso wie Völker vermischen. Und Reinrassigkeit braucht man in der Sprache ebenso wenig wie bei den Genen. Die teilweise Vermischung von Sprachen geschieht natürlich nicht ganz willkürlich, sondern hängt von geschichtlichen Zusammenhängen ab. Dass in der Vergangenheit Deutsch – wie viele andere europäische Sprachen auch – von lateinischen Begriffen durchdrungen wurde, lag vor allem daran, dass sie aufgrund römischer Vorherrschaft über viele Jahrhunderte Weltsprache der europäischen Herrscher, Gelehrten und Wissenschaftler war. Heute ist die Sprache internationaler Dispute Englisch. Während aber Latein praktisch gar nicht mehr gesprochen wird, ist Englisch gleichzeitig eine Weltsprache, die nicht nur auf die Oberschicht beschränkt ist. Im Gegensatz zu Latein taugt Englisch daher nicht als Identifikationsmerkmal der bildungsbürgerlichen Oberschicht. Hinzu kommt, dass Deutschland ein Land ist, das wirtschaftlich und kulturell sehr weltoffen, mondän (französisch), global (latein, englisch) ist und daher viele Bundesbürger viele Berührungspunkte mit der englischen Sprache haben. Es liegt nahe, dass in einer solchen Situation eine Menge Anglizismen entstehen. Und daran kann eigentlich nichts Schlechteres sein als in früheren Jahrhunderten die Invasion lateinischer Begrifflichkeiten. Es muss also etwas anderes hinter dem Ärger der Sprachhüter stecken.

Worum es bei der ganzen Debatte wirklich geht, ist vermutlich Folgendes: Wer sich über die Anglizismen und das so genannte Denglisch aufregt, zählt für gewöhnlich zum Bildungsbürgertum. Dort ist die Nutzung von lateinischen, griechischen oder französischen Fremdwörtern nicht nur geduldet, sondern sie gehört sogar zum guten Ton. Wer sie zu gebrauchen weiß, unterstreicht seine (humanistische) Bildung und signalisiert die Zugehörigkeit zur Identifikationsgruppe der Akademiker, der Wissenschaftler, der Kopflastigen, der angesehenen mitunter wohlhabenden Oberschicht und kann sich gegenüber der weniger vornehmen und gebildeten Bevölkerung durch unverständliche lateinische Fremdwörter abheben. Wer sich pragmatischer Kurzformen, die der plakativen englischen Sprache entlehnt sind, bedient, signalisiert hingegen eher eine Ignoranz bildungsbürgerlicher Werte. Hier stehen sich also vor allem die Identitäten zweier gegensätzlicher sozialer Schichten gegenüber und wahrscheinlich auch die Ideale der alten und der neuen Welt.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich dann auch, warum selbst abgehobene altsprachliche Fremdworte, die gar nicht der Verständigung, der ureigentlichen Funktion von Sprache, dienen, sondern sie eher verhindern, selten der Kritik der Sprachgelehrten ausgesetzt sind, während Anglizismnen pauschal kritisiert werden, obwohl sie kurz und prägnant formuliert häufig sehr gut von den meisten verstanden werden – vielleicht mit Ausnahme einiger schon recht betagter Mitbürger.

Fazit: Englisch ist auch nicht schlechter als Latein. Der Maßstab zur Beurteilung von Sprache sollte vor allem sein, inwieweit sie verstanden wird. Es bleibt jedem Einzelnen selbst überlassen, welche Begriffe man verwendet. Eine pauschale Vorschrift – und sei es auch nur eine Liste voller „Vorschläge“, mit der man unterstellt, es bestünde grundsätzlich ein weit verbreitetes Interesse an der Vermeidung von Anglizismen, ist anmaßend. Man kann selbstverständlich in jedem Einzelfall über den Sinn und Unsinn eines bestimmten Begriffs diskutieren. Oder man benutzt diejenigen Begriffe, die einem nicht gefallen, einfach nicht. Ich jedenfalls nehme mir diese Freiheiten heraus.