Wirtschaftspolitik ohne Opfer ?

Automobilindustrie und Stahlindustrie sind die derzeit auffälligsten Sorgenkinder der deutschen Wirtschaft. Und auch allgemein sieht es nicht gut aus. Das nationale Wirtschaftswachstum verdient seinen Namen nicht mehr. Da liegt es für viele Menschen auf der Hand, die Politik als Alleinschuldigen anzuprangern. Die Ampel ist nicht zuletzt genau daran zerbrochen. Die bisherige Opposition verspricht nun, nach einem erfolgreichen Wahlergebnis alles wieder in Ordnung zu bringen. Und auch die Ampelparteien geben sich befreit von den Fesseln, ohne die sie endlich das Richtige tun könnten, sofern sie denn das Vertrauen der Wähler zurückgewinnen würden. Sind diese Versprechen realistisch?

In der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie sieht alles ganz einfach aus: Ein System, das sich durch fairen und offenen Wettbewerb selbstreguliert, bringt dauerhaft die besten Ergebnisse hervor. Dafür gibt es sogar einige empirische Belege. Der Staat hat in diesem Konzept zwar eine wichtige Funktion, etwa für das Justizwesen, das auch für die Sicherung der Institution Wettbewerb zuständig ist, die Landesverteidigung und andere so genannten „öffentlichen Güter“, die auf marktwirtschaftlichem Weg nicht zustande kämen, die Herstellung einer allgemeinen Infrastruktur für Energieversorgung und Verkehr, die sowohl für die Bevölkerung als auch für die Wirtschaft wichtig ist, die Währungspolitik, die Bewirtschaftung von Bildungsinstitutionen, welche unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten jedem und jeder zur Verfügung stehen und der internationale Freihandel. Das ist zumindest die marktwirtschaftliche Grundordnung, wie wir sie seit Adam Smiths „Wohlstand der Nationen“ (1776) lehren. Hinzugekommen ist vor allem im 20. Jahrhundert die Sozialpolitik. Insbesondere in unserer „Sozialen Marktwirtschaft“ steht diese auf den fünf Säulen des Sozialversicherungssystems: Renten-, Kranken-, Arbeitslosen-, Unfall- und Pflegeversicherung, wobei diese als Körperschaften des öffentlichen Rechts konzipiert sind und sich selbst verwalten, wenngleich teilweise mit der massiven Unterstützung von Steuergeldern. Und auch von der im Grundgesetz verbrieften Würde des Menschen leiten sich Grundrechte wie Sozialhilfe und Arbeitsschutzrechte ab.

Innerhalb dieser Rahmenbedingungen lassen sich auf der Basis privaten Unternehmertums, welches das Eigentum an Produktionsmittel garantiert, sowie eines funktionstüchtigen Kapitalmarktes langfristig die besten Ergebnisse zum Zweck einer Wohlstandssteigerung beziehungsweise -erhaltung erreichen. Mischt sich der Staat in die marktwirtschaftliche Selbstregulierung ein, so widerspricht er wiederum grundsätzlich den selbstgesetzten Prinzipien und streut Sand ins Getriebe der dezentral organisierten Wirtschaft. Die Geschichte hat allerdings immer wieder gezeigt, dass es Situationen und Phasen gibt, in denen der Staat sich berufen fühlt, sich dennoch immer wieder einzumischen – insbesondere dann, wenn Arbeitsplätze im größeren Umfang bedroht sind. Und an dieser Stelle taumelt die Politik stets zwischen zwei Prinzipien hin und her: Dem Erhalt der langfristigen Anpassungsfähigkeit des Systems zur Resilienz und langfristigen Wohlstandssicherung und dem kurzfristigen Erhalt des Status quo zur Vermeidung von temporärer, partieller Arbeitslosigkeit.

Hier stehen sich zwei schwer zu vereinbare Ziele gegenüber, weil sie an unterschiedlichen Maßstäben gemessen werden. Der erste ist zunächst abstrakter Natur und bezieht sich auf schlecht definierbare Zeiträume und Bevölkerungsgruppen. Der zweite ist sehr konkret und betrifft direkt und zeitnah das Schicksal klar definierter Gruppen. Allzu verständlich, dass tausende Arbeitnehmer zum Beispiel in der Automobilindustrie oder der Stahlindustrie unter dem Bedrohungsszenario ihrer Jobs nach staatlicher Hilfe rufen. Die Vorstellung, sie mit dem Argument des wesentlich abstrakteren Schutzes des Systems zur Aufgabe ihres Protestes bewegen zu können, ist weltfremd. Und natürlich können Politikerinnen und Politiker, die möglichst viele Wähler gewinnen wollen, der Versuchung meist nicht widerstehen, sich als volksnahe Retter zu inszenieren. Damit können sie für gewöhnlich nicht nur bei den direkt Betroffenen punkten, sondern auch bei all denjenigen, die aus Empathie oder auch aus der Angst, vielleicht die nächsten Verlierer zu sein. Ich habe das seinerzeit in meinem Buch „Menschenbild, Moral und wirtschaftliche Entwicklung“ (1998) in Anlehnung an den Begriff „institutionelle Sklerose“ des bedeutenden Ökonomen Mancur Olson „moralische Sklerose“ genannt. Sie behindert die organische Selbstregulierung und damit die wirtschaftliche Entwicklung. Während Olson sich in seinem Buch „Aufstieg und Niedergang von Nationen“ (1982) auf die typische langfristige Verstopfung prosperierender Volkswirtschaften durch eine permanente Zunahme der Bürokratie und die Länge der Entscheidungswege bezog, zielt mein Argument darüber hinaus auf das oben beschriebene Phänomen. In dieser Lesart speist sich der Regulierungsdschungel nicht allein aus dem Einfluss von mächtigen Lobbyisten sowie der Eigendynamik der Administrationen, sondern auch durch den Druck großer Bevölkerungsteile, die mitunter aus gerechtigkeitsorientierten und solidarischen Motiven den Schutz des Staates einfordern.

In der Brust der meisten Menschen schlagen wohl zwei Herzen. Man versteht die Not vieler Einzelschicksale, die vor einer Entlassungswelle stehen. Noch vor kurzer Zeit war eine Anstellung etwa bei VW fast gleichbedeutend mit der sicheren Versorgung eines Beamten. Ganze Familiengeschichten ranken sich um ein Arbeitsleben bei VW, Ford oder ähnlichen Konzernen. Und jetzt soll für Tausende alles schlagartig vorbei sein? Auf der anderen Seite taucht schnell die Frage auf, ob staatliche Hilfeleistungen für wettbewerbsunterlegene Unternehmen zum allgemeinen Prinzip einer Wirtschaftspolitik erhoben werden dürfen. Man muss sich schließlich einen ganz einfachen Zusammenhang klarmachen: Produkte, die nicht mehr zu einem Preis nachgefragt werden, der die Herstellungskosten deckt und das notwendige Kapital bindet, sind überflüssig, ihre Produktion unwirtschaftlich. Die Produktionsfaktoren müssen, sofern alle anderen Rationalisierungsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden, in eine andere, produktive Verwendung fließen. Das nennt man dann Strukturwandel. Er ist ständiger Begleiter marktwirtschaftlicher Entwicklungsprozesse, die unseren Wohlstand erst begründet haben und ihn erhalten können.

Das viel beschworene Wirtschaftswachstum ist für den Erhalt unseres Wohlstandes wichtig und ermöglicht auch auf relativ bequeme Weise die Finanzierung sozialpolitischer Maßnahmen. Die Früchte des Wachstums lassen sich immer besser verteilen als die Opfer eines Ernteausfalls. Soviel ist klar. Dauerhaftes wirtschaftliches Wachstum bedeutet aber wirtschaftliche Entwicklung. Sie kann nur durch Innovationen geschaffen werden. Doch echte Innovationen sind untrennbar von einem Strukturwandel, der sich nicht ohne ein Absterben alter Industrien vollzieht kann. Aufleben und Absterben von Industrien sind zwei Seiten einer Medaille. Die Produktionsfaktoren, zu denen nicht zuletzt die Arbeitskräfte zählen, müssen in neue Verwendungen fließen und zwar dorthin, wo sie produktiver im Sinne der Nachfrage eingesetzt werden können. Dieser Prozess wird durch Erhaltungssubvention oder ähnliche Schutzhilfen ausgebremst. Am Ende ist der Untergang einer überalterten Industrie dennoch nicht zu verhindern. Und er wird durch eine Verzögerung viel schmerzhafter sein, als eine Phase marktwirtschaftlicher Anpassung gewesen wäre. Zudem verschwendet man – gerade im Lichte eines zunehmenden internationalen Wettbewerbs – wertvolle Zeit und Steuergelder, die für Investitionen auf dem eigentlichen Aufgabengebiet des Staates fehlen.

Ein moderner kapitalistischer Staat wie Deutschland sieht dennoch zurecht die Not der jeweils vom Strukturwandel negativ Betroffenen und hat Instrumente entwickelt, mit denen er jenen zu helfen versucht, die unverschuldet darunter leiden: Arbeitslosenversicherung, Auffanggesellschaften, Umschulung und Arbeitsplatzvermittlung. Eine faire Opferverteilung zum Schutz der allgemeinen Wohlstandswahrung. Das begrenzt den Schaden von betriebsbedingten Kündigungen, obgleich er ihn natürlich nicht nivelliert. Mit dem Bekenntnis zu einer freien Marktwirtschaft bleibt uns letztendlich aber nichts Anderes übrig, als diese Schattenseite des Wirtschaftssystems in Kauf zu nehmen. Andernfalls erlahmt das System einer anpassungsfähigen Wirtschaft. Und das schadet auf Dauer der gesamten Gesellschaft. Die aktuell schwierige Lage Deutschlands ist bereits das Symptom langjähriger systemfeindlicher Eingriffe und Versäumnisse. Sie ist keinesfalls – wie gerne von der Opposition behauptet wird – allein der Ampelregierung zuzuordnen. Sie hat einen länger zurückliegenden Ursprung. Die vorliegenden Konzepte zur Problembewältigung aller Parteien sind daher nicht überzeugend. Entweder sind die zu erwartenden Effekte viel zu gering, oder es fehlen nachvollziehbare Finanzierungsstrategien für wirkungsvolle Ansätze. Eine ausufernde Schuldenerweiterung kann nur dann sinnvoll sein, wenn sie mit einer echten Investitionsstrategie verbunden ist, die starke langfristige Effekte erwarten lässt. Langjährig versäumte Maßnahmen können nicht schlagartig nachgeholt werden. Weder konnte das die Ampel leisten, noch wird das eine neue Regierung schaffen. Das ist die bittere Wahrheit. Wer in der Politik ernsthaft, ehrlich und kompetent ist, müsste die Bevölkerung auf eine Durststrecke einstellen, auf der wir uns wieder fit für die Zukunft machen müssen. Das verlangt Opfer- und Kompromissbereitschaft, nicht nur von der Politik, sondern auch von den Bürgerinnen und Bürgern.

Im Fall der Krise der deutschen Automobilindustrie war der konjunkturelle Einbruch ebenso absehbar wie unvermeidbar. Zum einen schwindet aus wichtigen klimapolitischen Gründen der Absatz von Verbrennungsmotoren, mit denen deutsche Hersteller Jahrzehnte lang viel Geld verdienen konnten, weil sie darin in sehr langer Tradition zu den besten gehörten. Ein Elektromotor hingegen ist wesentlich einfacher zu produzieren, weswegen jetzt auch Länder wie China im Weltmarkt mitspielen können. Gerade das riesige aufstrebende China, das lange Jahre durch hohe Wachstumsraten glänzte, war ein lukrativer Absatzmarkt für deutsche Autos. Doch nicht nur, dass die chinesische Wirtschaft jetzt schwächelt, sondern mittlerweile selbst große Mengen an Elektroautos herstellt, beendet die goldenen Zeiten. Den Weltmarkt für Automobile teilen sich immer mehr Anbieter. Und die Bedeutung der Technologieführerschaft bei Verbrennungsmotoren sinkt stetig. Das alles war vorhersehbar. Man kann das Management deutscher Konzerne dafür verantwortlich machen, nicht schon früher auf die Entwicklung reagiert zu haben. Doch ist es eine Illusion zu glauben, dass dies ohne Schrumpfungsprozesse funktioniert hätte. Und nach der Doktrin kurzfristiger Gewinnmaximierung, lukrativer Ausschüttungen an die Aktionäre sowie gewerkschaftlich errungener Lohnsteigerungen nimmt man erst einmal alles mit, was geht. Langfristige Ziel geraten hingegen unter die Räder.

Was die deutsche Wirtschaft aber wirklich braucht, sind innovative Impulse in Zukunftstechnologien. Die kann der Staat nicht aus dem Hut zaubern. Das liegt im Wesentlichen in den Händen das Unternehmertums. Was der Staat tun kann und tun müsste, ist die Wirtschaft von unnötigen Fessel zu befreien sowie die Infrastrukturen und Bildungsinstitutionen zu verbessern. Bei der Opferverteilung – denn Innovationen bringen immer auch Geschädigte mit sich – muss man Augenmaß bewahren. Doch der Versuch, glauben zu machen, man verschone die allermeisten Bürger, indem man eine kleine Minderheit von Bürgergeldempfängern, die sich weigern, eine Arbeit aufzunehmen, das Geld zu streichen, mag bei vielen Wählern aus einem Gerechtigkeitsempfinden heraus fruchten. Doch das Problem wird dadurch ganz sicher nicht gelöst. Wenn jetzt der nun offiziell vertrauensunwürdige Bundeskanzler sein soziales Herz zeigt, indem er mit der Herabsetzung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes für lebenswichtige Artikel um zwei Prozentpunkte wirbt, ist das nur reine Symbolpolitik. Und auch wenn die Asyl- und Migrationspolitik gewiss einer Veränderung bedarf, wird sie nicht per se die wirtschaftliche Situation Deutschlands verbessern. Man kann die Liste um einige Punkte fortsetzen.

Ich weiß nicht, ob sich Ehrlichkeit in der Politik auszahlen kann. Vertrauen in die politische Führung ist aber gewiss ein sehr wichtiger Faktor. Und um dieses Vertrauen wiederzugewinnen, ist mehr Ehrlichkeit notwendig. Auch die Bereitschaft, nicht nur seinen eigenen direkten Vorteil im Blick zu haben, ist eine Notwendigkeit für eine Gesellschaft, die auf gemeinsame Anstrengungen angewiesen ist. Das gilt nicht nur für die Politik, sondern ebenso für Wähler.

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