Deklination des gesetzlichen Mindestlohns

Nachdem sich Bundeskanzler Olaf Scholz und auch SPD-Parteichef Lars Klingbeil eindeutig zu einer kräftigen Erhöhung des „gesetzliches Mindestlohns“ auf 14 Euro, später auf 15 Euro, öffentlich positioniert haben, steht das Thema wieder im Fokus der Politik. Dabei tun sich die alten Fronten auf. Die CDU sieht darin einen unerlaubten und schädlichen Einfluss auf marktwirtschaftliche Mechanismen, die SPD orientiert sich am Grundsatz, dass jeder vom Lohn seiner Arbeit leben können sollte. Ich will zunächst einmal die wichtigsten Fakten ansprechen, die in der Diskussion Verwendung finden müssen:

  1. Grundsätzlich darf in Deutschland der Staat auf die Gestaltung des Bruttolohns in der Privatwirtschaft keinen Einfluss nehmen. Neben der individuellen Aushandlung von Arbeitsverträgen regeln branchenbezogene Tarifverträge die Lohnstrukturen in den jeweiligen tariflich gebundenen Unternehmen und Organisationen. Dabei gilt die so genannte „Tarifautonomie“, das heißt: die eigenständige Aushandlung von Tarifen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Dadurch sollen Arbeitnehmer möglichst hohe Einkommen erwerben, die aber gleichzeitig betriebswirtschaftlich noch darstellbar sind.
  2. Aber längst nicht alle Arbeitnehmer, insbesondere im untersten Lohnbereich, werden gewerkschaftlich vertreten und profitieren damit nicht von solchen Tarifverträgen. Um gewerkschaftlich nicht vertretenen Arbeitnehmern, die sich im untersten Lohnsegment bewegen, einen gewissen Schutz vor Ausbeutung zu geben, setzte sich nach langjähriger parteipolitischer Auseinandersetzung schließlich 2015 – noch zu Merkels Zeiten – der Konsens durch, gesetzlich ein allgemein gültiges Mindestniveau für den Stundenlohn einzuführen.
  3. Um aber gleichzeitig den Parteien nicht die Möglichkeit zu eröffnen, sich in Wahlkämpfen zum Schaden der Volkswirtschaft gegenseitig zu überbieten, legte man die Festsetzung beziehungsweise die Anpassung der Höhe eines gesetzlichen Mindestlohns in die Hände einer neunköpfigen Kommission, die von der Bundesregierung alle fünf Jahre neu berufen wird. Die Mindestlohnkommission besteht aus einem Vorsitzenden, drei Arbeitnehmer- und drei Arbeitgebervertretern sowie zwei nicht stimmberechtigten wissenschaftlichen Beratern – eine Struktur, die Aufsichtsräten von Aktiengesellschaften entspricht.
  4. Obwohl die Regierung nicht direkt weisungsberechtigt ist, so ist es keinem Politiker untersagt, seine Meinung zu einer Anhebung öffentlich kundzutun. Ob damit indirekt ein unzulässiger Druck auf die Kommission ausgeübt wird, bleibt allerdings Interpretationssache.

Das Argument der eher wirtschaftsorientierten CDU und Gleichgesinnten gegen eine deutliche Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns speiste sich stets – und noch immer – aus der schulökonomischen Überlegung, dass ein Mindestlohn, der sich oberhalb des marktwirtschaftlichen Gleichgewichtslohns bewegt, Arbeitsplätze kostet, da manche Arbeitgeber sich diesen nicht mehr leisten könnten. In einer rein mathematischen, statischen Betrachtung ist dieser Logik zunächst nichts entgegenzusetzen. Doch in der Praxis ist weder die ideale Höhe des theoretischen Gleichgewichtslohns noch seiner negativen oder positiven dynamischen Effekte im Vorfeld berechenbar. Was bleibt, sind unterschiedliche, oft interessenorientierte Schätzungen. Ab welcher Höhe der gesetzliche Mindestlohn tatsächlich eine nennenswerte Zahl an Arbeitsplätzen reduziert, ist daher ungewiss. Sicherlich darf die Lohnhöhe nicht überzogen werden. Ist er aber zu niedrig, bleibt er wirkungslos und überflüssig. Wo der Kipppunkt in der Realität genau liegt, weiß niemand. Man kann sich letztlich nur herantasten. Eine Anhebung des Mindestlohns kann zum Beispiel einen konjunkturbelebenden Effekt haben, weil das zusätzliche Geld in den Taschen der relativ armen Haushalte zumeist direkt wieder ausgegeben wird. Des Weiteren stellt sich die volkswirtschaftliche Frage, ob Menschen in Jobs gebunden werden sollten, von denen sie nicht einmal leben können. Geschäftsmodelle, die auf einem solch geringen Lohn fußen, sind unserer hochentwickelten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eigentlich nicht würdig. Das Argument der SPD und anderen beruht vor allem auf dieser ethischen Grundüberzeugung. Der Lohn jeder Ganztagsbeschäftigung müsse dafür ausreichen, wenigsten seinen bescheidenen Lebensunterhalt und ein Geringmaß an gesellschaftlichen Bedürfnissen zu decken. Auf diese Weise gar eine Familie zu ernähren, ist in weite Ferne gerückt.

Wichtig erscheint dennoch allen Parteien die Beachtung des so genannten „Lohnabstandsgebots“, womit ein spürbarer Abstand zwischen einem Lohn für Arbeitsleistung und leistungsunabhängiger staatlicher Unterstützung stets gewahrt bleiben soll. Nur so könne die Aufnahme einer Erwerbsarbeit attraktiv bleiben. Tatsache ist, dass es entgegen mancher Behauptungen einen solchen Abstand zwischen Mindestlohn und Sozialleistung zwar gibt. Ob der allerdings, gemessen an dem Arbeitseinsatz der betreffenden Mindestlohnempfänger, hoch genug ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Rein rechnerisch ist dem wohl nicht so. Einer bezahlten Arbeit nachzugehen, bedeutet für die meisten Menschen jedoch mehr als nur der Kontostand. Im Falle der wohl relativ wenigen Totalverweigerer wird der geringe Abstand allerdings zumindest allgemein als ungerecht empfunden.

Während insbesondere unter Berücksichtigung des Lohnabstandsgebots die CDU-Linie und auch die der FDP unter dem Slogan „Arbeit muss sich lohnen“ das Bürgergeld als zu hoch und zu leichtfertig vergeben angesehen wird, sind SPD und auch die GRÜNEN der Ansicht, man müsse den Abstand zwischen Sozialleistung und Lohn durch die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns verstärken. Offenbar sieht man mittlerweile auch dort ein Gerechtigkeitsproblem selbst in der eigenen Klientel. Hier zählt auch das Argument, dass nicht zuletzt wegen einer erheblichen Inflation der letzten Jahre wenig Kürzungsspielraum für eine Sozialleistung besteht, die schließlich das Existenzminimum sichern muss.

Neuerdings fordert die CDU, man müsse im Niedriglohnbereich nicht am Brutto- sondern am Nettolohn etwas ändern. Das hätte denselben Effekt für Geringverdiener. Die Regierung solle also die Steuern für die betroffenen Lohnempfänger senken. Dem Kanzler wird dabei unterstellt, er bevorzuge eine plakative deutliche Erhöhung des Mindestlohns, um gleichzeitig eine Verbesserung der Steuereinnahmen herbeizuführen und eine Lastenumverteilung vom Staat auf die Wirtschaft vorzunehmen. Eine Verminderung der Steuertarife würde die Staatseinnahmen hingegen reduzieren. Was ist von diesem Argument zu halten?

Richtig ist, dass – sofern keine erkennbare Arbeitslosigkeit durch die Erhöhung produziert wird – der Staatshaushalt zulasten der Arbeitgeber etwas geschont würde und sogar ein paar Euro mehr an Lohnsteuer einnehmbar wären. Nachvollziehbar ist auch, dass untere Einkommensgruppen vielleicht immer noch zu hoch besteuert werden. Allerdings fallen in diesem Bereich bei der Differenz zwischen brutto und netto die Sozialbeiträge viel stärker ins Gewicht. Sie zu kürzen, wäre aber angesichts der sich verschlechternden medizinischen Versorgung als auch zunehmender Rentenfinanzierungsprobleme geradezu anachronistisch und verantwortungslos. Selbiges gilt bei den aktuell großen Herausforderungen der Staatsfinanzierung für eine Reduzierung der Steuereinnahmen. Steuererleichterungen für die unteren Einkommensgruppen müssten daher mit Steuererhöhungen der oberen Einkommensgruppen einhergehen. Eine so gelagerte, wenigstens aufwandsneutrale Steuerreform wird aber von der CDU und nicht zuletzt der FDP vehement verweigert, da sie einen starken Glauben an eine Leistungsgesellschaft hegen und wirtschaftlich erfolgreiche Bürgerinnen und Bürger zu ihrer Klientel gehören.

Nun könnte es – wovor ebenfalls von der schulökonomischen Seite häufig gewarnt wird – theoretisch auch passieren, dass die steuerliche Mehrbelastung von Gutverdienern zur Abschwächung der Binnenkonjunktur führt. Doch zumindest bei Spitzenverdienern ist das nicht zu erwarten. Auf der anderen Seite wären zwar Steuererleichterungen bei den untersten Lohnempfängern naturgemäß nicht besonders schmerzlich für den Staatshaushalt. Wer 13 Euro die Stunde verdient, muss und kann ohnehin nicht viel Steuern zahlen und trägt damit auch nicht viel zum Steueraufkommen bei. Die besonders von Armut betroffenen Alleinerziehenden sowieso nicht. Selbst eine kräftige Steuersenkung, würde also die finanzielle Lebenslage vieler Geringverdiener kaum oder gar nicht verbessern. Rund zwei Euro mehr Stundenlohn hingegen schon – vorausgesetzt, er wird nicht unverhältnismäßig weggesteuert und führt nicht zu Entlassungen. Und sie würden den Staat ein wenig bei den Aufstockern, also denjenigen entlasten, die – wie etwa Alleinerziehende – keinen Vollzeitjob ausüben können. Am besten wäre es folglich, beide Maßnahmen, also Mindestlohnerhöhung und steuerliche Entlastung für Geringverdiener gleichzeitig durchzuführen, damit von der Erhöhung eines Mindestlohns netto viel übrigbleibt. Das wäre für Geringverdiener spürbar und käme auch dort, wo es individuell möglich ist, dem gewünschten Anreiz zur Aufnahme beziehungsweise zeitlichen Ausdehnung einer Arbeit zugute. Bürgerinnen und Bürgern, die ein sehr hohes Einkommen haben, kann man im Gegenzug durchaus eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes zumuten. Selbst eine CDU-Regierung unter Kohl war seinerzeit dazu bereit.

Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit der Argumente. Doch es zeigt sich bereits unter Berücksichtigung der oben genannten Aspekte eine nicht geringe Komplexität der Sachlage, die volkswirtschaftlich unbeleckte Wählerinnen und Wähler für gewöhnlich nicht vollständig zu durchdringen vermögen. Unter dem Strich bietet diese Komplexität daher jedem politischen Interessenvertreter die Möglichkeit, nur denjenigen Teil an Argumenten vorzubringen, welcher der eigenen Klientel dient. Der Streit um den gesetzlichen Mindestlohn eignet sich daher leider hervorragend für eine ideologische, populistische Auseinandersetzung, welche eine vernunftorientierte, gerechte Einigung erschwert.

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