Eine Demokratie schafft sich ab

Die Türkei hat gewählt und mit einer Mehrheit von 52,5 Prozent ihrem Präsidenten Erdogan nicht nur erneut das Regierungsmandat erteilt, sondern auch das Amt mit so viel Macht ausgestattet, dass zukünftig dauerhaft die Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt bleibt. Besonders bitter für überzeugte deutsche Demokraten ist das Wahlverhalten vieler in Deutschland lebender Wahlberechtigter. Die entschieden sich nämlich sogar mit fast Zweidritteln für einen faktisch allein herrschenden Erdogan. Da kann man nur mit dem Kopf schütteln. Menschen, die hier von den Institutionen einer offenen demokratischen Gesellschaft tagtäglich profitieren, sorgen dafür, dass sie in ihrem Herkunftsland abgeschafft werden. Und das, wo Erdogan längst bewiesen hat, dass Pressefreiheit, Menschenrechte und Minderheitenschutz in seinem Wertesystem keine große Rolle spielen. Wie kann oder muss man aus deutscher Sicht Erdogans Sieg nun deuten?

Wenn sich ein demokratisches System per Volkeswille selbst abschafft, dann kann das meines Erachtens nur in zwei Varianten interpretiert werden. Erste Variante: Über die Hälfte des in der Türkei lebenden Wählervolks und zwei Drittel des hier lebenden wurden im Wahlkampf hinters Licht geführt und haben nicht gemerkt, dass es durch die Einführung des Erdoganschen Präsidialsystems letztendlich sich selbst entmachtet. Zum Hinterslichtführen gehören natürlich immer zwei Seiten – die, die führt, und die, die sich führen lässt. Und so könnte man vermuten, dass die Erdogan-Anhänger vielleicht gar nicht wissen, aus welchen Elementen eine repräsentative Demokratie bestehen muss, damit sie dauerhaft funktionieren kann. Demokratie bedeutet eben nicht nur die Möglichkeit, einen Präsidenten zu wählen. Eine echte Demokratie braucht mehr als das.

Zweite Interpretationsvariante: Die absolute Mehrheit weiß zwar, was eine echte Demokratie braucht, aber es ist ihr egal, ob man sich noch in den Grenzen eines demokratischen Systems bewegt. Es lebe der König, der sein Volk zu neuem Ruhm und Reichtum verhilft. Während These eins also die Ursache in einer fehlenden politischen Bildung vieler Wähler sieht, unterstellt These zwei eine mehrheitlich undemokratische Gesinnung. Es lassen sich wohl für beide Thesen genügend Belege finden.

Auch wenn der Populist Erdogan in seinen aktuellen Siegesreden nicht müde wird, von einem großen Tag für die Demokratie zu sprechen, weiß er selbst nur allzu gut, dass das Gegenteil der Fall ist. Eine repräsentative Demokratie muss auf eine möglichst große Konsensbildung angelegt sein. Sie darf auf keinen Fall zur Diktatur einer Mehrheit werden, muss also auch Minderheiten schützen, und zwar ebenso durch die Wahrung von Grundrechten, als auch durch die Kontrollfunktion eines repräsentativen Parlaments. Erdogan hat mit der Ausweitung seiner Machtbefugnisse die Gewaltenteilung – eine zentrale Institution der Demokratie – frontal angegriffen. Er kann künftig in vielen Bereichen per Dekret am Parlament vorbei regieren, was er bislang nur im Ausnahmezustand vermochte. Mit der Vereinigung von ausübender (Exekutive) und gesetzgebender Gewalt (Legislative) nimmt Erdogan der parlamentarischen Opposition jetzt jegliche wirksame Kontrollmöglichkeit. Doch damit nicht genug. In Zukunft darf der alte Präsident im neuen maßgeschneiderten Amt sogar die Mehrheit der Verfassungsrichter benennen, womit auch noch die für den Rechtsstaat so wichtige Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt (Judikative) zerstört wird.

Für einen überzeugten Demokraten ist es immer enttäuschend, wenn irgendwo auf der Welt sich die demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen nicht durchsetzen können. Für viele deutsche Demokraten ist es jetzt aber besonders befremdlich, von vielen Mitbürgern mit türkischem Migrationshintergrund umgeben zu sein, von denen sie nicht nur annehmen müssen, dass sie unbedachter Weise einem Demagogen auf den Leim gegangen sind, sondern dass sie möglicherweise gar nicht zu den demokratischen Werten unserer Gesellschaft stehen.

Natürlich müssen sich auch die deutschen „Ureinwohner“ an die eigene Nase fassen und sich fragen, was sie in Sachen Integration falsch gemacht haben. Wenn Erdogan so leicht die Herzen hier lebender türkischer Wahlberechtigter gewinnen konnte, muss er bei dieser Bevölkerungsgruppe auf eine große Unterversorgung ihrer emotionalen Identifikation getroffen sein. Türkischstämmige Menschen mögen hierzulande formal im Großen und Ganzen anständig behandelt worden sein. Herzlich aufgenommen wurden sie im Allgemeinen aber nicht. Noch heute berichten selbst viele der hier geborenen und bestens integrierten türkischstämmigen Mitbürger von latenter Benachteiligung, wie zum Beispiel bei der Wohnungs- oder Arbeitsplatzsuche. Sobald man sich mit türkischem Namen vorstellt, läuft man Gefahr, aussortiert zu werden. Erdogan scheint vielen der türkischstämmigen Mitbürger, die hier nicht voll respektiert, sondern eher geduldet werden, ein höheres Selbstwertgefühl zu vermitteln. Das wirkt wie eine emotionale Droge, die alle kritischen Überlegungen dominieren kann. Den fruchtbaren Boden für Erdogans Erfolg in Deutschland haben wir also über Jahrzehnte vorbereitet und daher mitzuverantworten. Viele unserer türkischstämmigen Mitbürger haben in der Galionsfigur Erdogan offensichtlich die emotionale Heimat gefunden, die sie hier vermissten.

Soweit reicht mein Verständnis. Doch kann ich die Ignoranz der Erdogan-Anhänger gegenüber den Verfehlungen ihres Nationalhelden letzten Endes nicht akzeptieren. In Deutschland werden sie in allen Medien von einer freien und vielfältigen Presse gut informiert. Keiner kann behaupten, nichts von Erdogans unredlichem Machthunger und seinen antidemokratischen und Menschenrecht verletzenden Machenschaften gewusst zu haben. Wer zudem die Vorzüge unseres Systems schätzt und genießt, hat die Pflicht, sich auch zu seinen Werten zu bekennen und ihnen, wo möglich, zum Durchbruch, nicht zum Zusammenbruch zu verhelfen. Wer dazu nicht bereit ist, verweigert sich im Grunde aktiv einer Integration, an deren Anfang das Bekenntnis zu unserem Grundgesetz stehen muss. Erdogan-Wähler müssen sich daher nicht wundern, wenn sie von verärgerten, demokratietreuen Mitbürgern – sowohl in Deutschland als auch der Türkei – aufgefordert werden, ihr Leben zukünftig im Herrschaftsgebiet ihres geliebten politischen Führers einzurichten.

Zum Schluss sollten wir aber bei aller Verärgerung nicht vergessen, dass in der Türkei 47,5 Prozent und in Deutschland immerhin ein Drittel der Wahlberechtigten Erdogan nicht gewählt haben. Sie brauchen jetzt mehr denn je Zuneigung und Verständnis.

 

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