Die Kanzlerin wird derzeit gefeiert, weil sie es während ihrer 15-jährigen Amtszeit einmal geschafft hat, in einer öffentlichen Ansprache ein wenig emotional zu wirken. Ich glaube, das muss man nicht verstehen. Nachdrücklich an die Verantwortung freier Bürger*innen zu appellieren und schon einmal vorsichtig mit dem Zeigefinger anzudeuten, dass man gegebenenfalls noch weitere Maßnahmen erwägen wird – womit sie ja nur die Ausgangssperre gemeint haben kann – scheint mir eine sehr zögerliche Antwort auf die beschleunigte Verbreitung des Virus zu sein. Der ist schlauer und nutzt gnadenlos jeden Freiraum, den man ihm gewährt.
Was ist los mit den angeblich so rationalen Deutschen, die eine kühle Physikerin zur Anführerin haben? Ist es tatsächlich angemessen, uns wegen liberalistischer Prinzipien auch in diesem Fall gegen klare Verbote und verbindliche Einschränkungen zu wehren, selbst wenn sie Gemeinwohl und Menschenleben schützen? Oder ist Immanuel Kants Vision einer freiheitlichen, selbstbestimmten Gesellschaft, die auf Vernunft basiert, nur eine Utopie, die in die selbe Schublade gehört wie Marx´ Vision vom Kommunismus? Die Wahrheit liegt wie so oft wohl zwischen beiden Polen?
Man muss sich nicht von den Idealen des großen Aufklärungsphilosophen Kant distanzieren. Doch zu glauben, wir hätten es mit einer voll aufgeklärten, vernünftigen Gesellschaft zu tun, ist naiv. Trotzdem wir seit vielen Wochen unsere Lehren aus dem Corona-Verlauf in China, Italien, Spanien, Österreich, Schweiz sowie aus historischen Daten wie der Spanischen Grippe ziehen können, glauben wir noch immer an einen Deutschlandbonus. So hieß es, wir seien im Vergleich zu anderen Ländern bestens auf den Ernstfall vorbereitet und hätten zudem zuverlässigere Messmethoden, die wiederum frühzeitig zum Einsatz gekommen seien. Im Nachhinein entpuppen sich viele der beschwichtigenden Worte immer mehr als deutsche Arroganz und willfährige Statements von Politiker*innen, die nicht die „Überbringer schlechter Nachrichten“ sein wollen.
Wer Augen und Ohren nicht verschließt, muss erkennen, dass wir schon jetzt in Engpässen medizinischer Versorgung stecken. Und leider gibt es keinen vernünftigen Grund zu glauben, dass sich die Situation nicht noch weiter zuspitzen wird. Um das Schlimmste zu verhindern, muss man sofort auf allen Ebenen alle Register ziehen. Das Gebot der Stunde heißt „schnell und drastisch“. Das macht uns nicht zu einem totalitären Staat. Taiwan, das gewiss kein solcher ist, hat es beispielsweise vorgemacht und war damit sehr erfolgreich. Am Ende gewinnt man mit diesem Vorgehen eben mehr Freiheit als durch die vermeintlich besonnene Methode des „Auf-Sicht-fahrens“. Manche der verantwortlichen Politiker – allen voran der bayrische Ministerpräsident, der derzeit eine gute Figur als Krisenmanager macht – haben das verstanden, andere nicht. Mittlerweile haben einige Bundesländer, Städte und Gemeinden sich zu einer eingeschränkten Ausgangssperre durchgerungen. Der Rest wird sich in Kürze aus der Deckung trauen und dem Trend folgen. Dennoch werden die Vorreiter jetzt von oppositionellen Politikern für ihr Vorpreschen kritisiert, weil sie sich nicht auf langwierige Abstimmungsprozesse eingelassen haben. Anstatt die Zögerer zu kritisieren, schiebt man nun den Handlungswilligen den schwarzen Peter zu. Das ist absurd.
Es liegt in der Natur einer Pandemie, dass die schlimmen Auswirkungen von Fehlentscheidungen und Fehlverhalten erst dann sichtbar werden, wenn man keinen Einfluss mehr auf das Ergebnis hat. Der Mensch – und da ist der Deutsche wahrlich keine Ausnahme – tut sich erfahrungsgemäß sehr schwer mit Problemen, deren Ursache und Wirkung keine Unmittelbarkeit besitzen. Wir kennen das auch aus anderen Bereichen, etwa vom Umgang mit dem Klimawandel. Auch hier kann der unmittelbare Zusammenhang zwischen Lebensstil und Umweltzerstörung nicht unmittelbar, sondern erst mit zeitlicher und lokaler Verschiebung sinnlich wahrgenehmen werden. Wir können dieses Phänomen auch noch an einigen anderen Stellen, die den Wohlstand Deutschlands gefährden, beobachten. Hierzu gehören die Vernachlässigung des Bildungssystems, der Fachkräftemangel, die Einschränkungen der Spitzenforschung, die langjährige Unterschätzung der Rechtsradikalen, demographische Entwicklung und Altersarmut.
Wenn wir die großen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen wollen, müssen wir lernen, systemisch zu denken. Und mit „Wir“ meine ich nicht nur die Politiker*innen, sondern auch die Bürger*innen, die sie wählen. Die Corona-Pandemie trifft uns zu einem Zeitpunkt, wo das Vertrauen in die Politik und der Respekt vor Amtsträgern und staatlicher Gewalt gering ist. Das schwächt das politische Immunsystem, die Gesellschaft ist dadurch anfälliger. Die aktuelle Krise, die schließlich biologischen Ursprungs ist, hätte man zwar auch mit Vertrauen und angemessenem Respekt nicht vermeiden, wohl aber stärker eindämmen können. Ich kann nur hoffen, dass die angeblich hohe Anzahl von Lungenmaschinen und Intensivbetten in Deutschland die zögerliche Krisenpolitik noch aufwiegen wird und es genügend gut ausgestattetes Personal gibt, das sich um die Schwererkrankten kümmern kann.
Bleibt gesund und zu Hause.