Veränderungen brauchen Krisen

Krisen brauchen Veränderungen, und Veränderungen brauchen Krisen. Dass man in der Krise Probleme lösen muss, dürfte wohl niemanden überraschen. Die Erkenntnis, dass bereits schon vorher vorhandene Probleme oft in Krisen erst den Anschub bekommen, gelöst zu werden, ist zwar weniger offensichtlich, aber leider ebenso wahr. Auf psychischer Ebene ist diese Logik, wonach man meist erst dann etwas ändert, wenn der Leidensdruck unerträglich wird, bekannt. Man denke nur Depressionen, Burnouts, Eheprobleme, Übergewicht oder Süchte. Nicht viel anders verhält es sich bei Staaten und Volkswirtschaften. So ändert sich auch die Politik normalerweise erst dann, wenn ein Land in eine Krise gerät. Ohne Krise keine wirkliche Veränderung. Es muss erst richtig weh tun, bevor man umdenkt, Dogmen hinterfragt und eingetretene Pfade verlässt.

Auch Organisationen, insbesondere traditionelle Unternehmen, gehen Probleme typischerweise erst dann in der gebotenen Gründlichkeit an, wenn sie in eine existenzielle Krise geraten. Veränderungen herbeizuführen, schon bevor ihre bittere Notwendigkeit für beinahe jeden offensichtlich wird, gehört zu den größten Herausforderungen des Managements. Krisen verleihen Veränderungsprozessen Schwung, weil sie gnadenlos offenbaren, was falsch läuft. Sie sind Detektoren von Fehlentwicklungen und mobilisieren Widerstand aus Not und Einsicht zugleich. Die Kehrseite der Medaille: Je tiefer man in die Krise rutscht, desto weniger Ressourcen stehen für kraftzehrende Veränderungen zur Verfügung. So bleibt es ein Balanceakt zwischen „noch können“ und „schon wollen“.

Die Spezies Mensch ist vernunftbegabt – sagt man jedenfalls. Doch nutzt sie ihre Begabung selten dazu, quälende Krisen zu vermeiden oder abzuschwächen, was objektiv gesehen zweifellos sehr vernünftig wäre. Warum tun wir uns aber dann so schwer damit? Eine nachvollziehbare Erklärung lautet: Zum einen wird der Überbringer schlechter Nachrichten geköpft. Zum anderen wird niemand dafür belohnt, eine Krise vermieden zu haben, weil eine vermiedene Krise eben keine ist und ihre effektive Verhinderung meist auf Spekulationen beruhen muss – jedenfalls nicht öffentlichkeitswirksam bewiesen werden kann. Und wenn eine Krise durch den rechtzeitigen Einsatz wirksamer Mittel verhindert wurde, beschweren sich im Nachhinein Oppositionen, Wähler, Steuerzahler, Belegschaften, Shareholder oder wer auch immer über kostspielige Ausgaben oder spürbare Einschränkungen, die man sich vermeintlicher Weise hätte sparen können.

Solange Menschen nicht bereit oder in der Lage sind, systemisch zu denken – was ein gewisses Maß an Abstraktion und Fantasie verlangt – wird sich hieran nichts ändern. Hat man hingegen vor diesem Hintergrund der Krisenentwicklung freien Lauf gelassen, reden sich die Amtsträger, die durch beherzte präventive Maßnahmen die Krise vielleicht hätten vermeiden oder wenigstens begrenzen können, üblicherweise leichtfüßig mit dem Argument heraus, dass man das alles nicht hätte voraussehen können und nur „Schlaumeier“ jetzt behaupten, alles schon immer gewusst zu haben. Erst diejenigen, die sich dann als geschickte KrisenmanagerInnen profilieren können, werden Ruhm ernten. Die Vermeider hingegen gehen ebenso leer aus wie die Mahner.

Das Corona-Virus hat die Welt im Handumdrehen in eine Krise gestürzt. Was die meisten von uns vor einigen Wochen noch kaum für möglich hielten, ist mittlerweile Alltag. So etwas Einschränkendes haben die Nachkriegsgenerationen hierzulande noch nicht erlebt. Gerade bei einer Krise dieses Ausmaßes stellen sich insbesondere zwei Fragen. Erstens: Hätte das Ausmaß der Infektionen und Freiheitseinschränkungen geringer ausfallen können, wenn man eine vorausschauende Politik gemacht und in unbeschwerten Zeiten seine Hausaufgaben erledigt hätte? Zweitens: Welche bestehenden Defizite und Fehlentwicklungen legt diese Krise darüber hinaus offen?

Zur ersten Frage: Jemanden persönlich für die Pandemie verantwortlich zu machen, ist schwierig und kann niemals vollkommen gerecht ausfallen. Dennoch, ganz oben auf der Liste der Verdächtigen stehen Chinas Machthaber Xi Jinping und sein Unterdrückungsregime. Sie hätten früher reagieren müssen, anstatt ihre Wissenschaftler und Journalisten zum Schweigen zu bringen. Erst im letzten Moment, als die Gefahr nicht mehr zu leugnen war, informierte man die Welt notdürftig. Schon wenige Wochen später verkaufte sich das chinesische Regime als vorbildlicher Krisenmanager, der sogar westlichen Staaten unter die Arme greift. Das passt zum oben beschriebenen Verhaltensmuster.

Auch die Europäische Union, unter ihren Mitgliedern das sorglose Schweden, hat sich bekanntlich nicht mit Ruhm bekleckert. Selbst Deutschland, das sich bislang im Vergleich zu vielen anderen Staaten als Musterknabe bewiesen hat, muss sich Versäumnisse vorhalten lassen. So ist die Corona-Krise kein sogenannter „Schwarzer Schwan“, wie der Autor des gleichnamigen Buches, Nassim Nicholas Taleb, zu Recht urteilt. Der Begriff „Schwarzer Schwan“ bezeichnet in der Wissenschaftstheorie ein vollkommen unvorhersehbares Ereignis, das alle Prognosen und Erwartungen zu Nichte machen kann. Die große Gefahr einer bevorstehenden Pandemie war hingegen sehr wohl bekannt und geradezu zum Greifen nahe. Auch wenn niemand ihre genaue Ausprägung und den exakten Zeitpunkt ihres Ausbruchs kannte, so galt es unter Experten als gesichert, dass es jederzeit passieren könne. Da darf man schon einmal nachfragen, warum sich ein reiches Land wie Deutschland für diesen greifbaren Notfall nicht wenigsten im ausreichenden Maß mit Masken und Schutzkleidung versorgt hat.

In Zeiten vor der Pandemie hätte die Finanzierung dieser an sich nicht kostspieligen Utensilien wahrhaftig kein Loch in die Staatskasse gerissen. Die Existenz eines ausgearbeiteten Krisenplans hätte es zudem ermöglicht, weit besser auf die Pandemie reagieren und die Einschränkungen der Freizügigkeit deutlich begrenzen zu können. Doch weder die Bundesregierung, die seit 15 Jahren von einer naturwissenschaftlich gebildeten Kanzlerin angeführt wird, noch der sich nun als Krisenmanager empfehlende Ministerpräsident und langjähriges Mitglied des bayrischen Kabinetts haben für notwendige Präventionen gesorgt. Auch das folgt dem klassischen Erklärungsmuster.

Zur zweiten Frage: Die Krise legt einige weitere gravierende Defizite deutscher und europäischer Politik offen. Zum einen wäre da der Zusammenhalt und die Synchronizität der Europäischen Union zu nennen: Solidarität, Regeltreue, Abstimmung, nicht zuletzt zwischen Frankreich und Deutschland. Zum anderen betrifft das innerdeutsche Versäumnisse. Diese Defizite waren Experten und einem interessierten Publikum zwar längst bekannt, doch widmete man ihnen erst in der Krise die gebotene Aufmerksamkeit: Digitale Infrastruktur, Möglichkeiten des Homeoffice, exzessiver Flugverkehr, Versorgungsabhängigkeiten von diktatorischen Staaten (insbesondere Medikamente etc. aus China), soziale Benachteiligungen von Kindern armer Eltern und Alleinerziehender, schlechter Zustand von Schulen, Unterversorgung von Kinderbetreuung, fehlendes Altenpflegepersonal, Fehlentwicklung des gewinnorientierten Gesundheitswesens, sklavenhafte Zustände in der Fleischindustrie durch ausgeprägte subunternehmenerische Strukturen, übermäßiger Fleischkonsum durch Verkauf per Untereinstandspreis, negative Effekte von Minijobs, die Priorität von Shareholder-Value gegenüber Stakeholder-Value und gewiss noch einiges mehr.

Die krisenbedingte Aufmerksamkeit und Erkenntnis wird wohl nicht zur schlagartigen und vollständigen Beseitigung all dieser Probleme führen. Aber es werden aller Wahrscheinlichkeit nach einige Regelungen in Bewegung geraten. Die Fleischindustrie bekommt bereits längst überfällige Konsequenzen zu spüren. Andere Probleme werden schwieriger zu lösen sein – sei es, weil der Widerstand immer noch zu groß oder die Lösung zu komplex ist.

Bleibt zum Schluss die Warnung, die Steuergelder, die man jetzt mit dem Füllhorn verteilt, nicht in die falschen Hände zu geben und damit die positiven Effekte einer Krise, namentlich die Erhöhung des Drucks zur notwendigen Veränderung und Anpassung erneut abzufedern. Hier ist nicht zuletzt Standhaftigkeit gegenüber der Automobil- und Flugzeug-Lobby anzumahnen. Und man wird auch begreifen müssen, dass das Beklatschen systemrelevanter, aber mies bezahlter ArbeitnehmerInnen nicht ausreicht.

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