Wie schnell doch sicher geglaubte Errungenschaften verloren gehen können. Die freie Presse galt in der Welt der offenen Gesellschaft immer als wichtige vierte Gewalt. Sie stelle ein Korrektiv dar, decke und kläre auf und sorge mit ihrem Ethos dafür, dass das Volk nicht dauerhaft hinters Licht geführt und persönlichen Interessen der Mächtigen ausgeliefert werde. Voraussetzung für eine unabhängigen Presse ist die Institution Pressefreiheit, also die verbriefte Garantie, dass der Staat nicht gegen Redaktionen vorgeht, sobald sie die Regierung kritisieren. Nicht umsonst geht derzeit der machthungrige türkische Präsident Erdogan mit vorgeschobenen Argumenten radikal gegen alle kritischen Journalisten vor. Und nicht zufällig wurde in keinem diktatorischen Staat jemals die Freiheit der Presse geduldet. Doch obwohl in den westlichen Demokratien kein ernst zu nehmender Politiker die Pressefreiheit infrage stellen würde, droht sie dennoch, Stück für Stück ihre wichtige Funktion zu verlieren.
Das ist besorgniserregend. Durch die Schwächung der vierten Gewalt ist der Festungsgraben der Demokratie bereits überwunden und der Sturm auf ihre Mauern gefährlich nahe gerückt. Folgende Faktoren sind meiner Beobachtung nach verantwortlich für diese Gefahr.
Erstens hat sich die Stimmung nicht unerheblicher Bevölkerungsteile gegenüber der Presse gewandelt. Hierzulande hören wir das selbsternannte „Volk“ seit einiger Zeit, das Wort „Lügenpresse“ durch die Gassen brüllen. Dirigiert wird der Chor von populistischen Hetzern, die – genau wie Erdogan – wissen, dass eine freie Presse der größte Feind diktatorischer Unterdrückung ist. Noch sind die rechten Populisten westlicher Demokratien nicht in der Lage, regierungskritische Journalisten einzusperren und unbequeme Redaktionen zu schließen. Ihre einzige Chance, die vierte Gewalt zu schwächen, ist sie zu diskreditieren. Genau das ist in vielen westlichen Ländern derzeit zu beobachten. Auch der zukünftige Präsident der USA, Donald Trump, tat dies im Wahlkampf und bezichtigte die Presse der Lüge und Voreingenommenheit, sobald diese seine nachweislichen Lügen aufdeckte. Jene Bürger, die sich von diesen Demagogen als Manövriermasse missbrauchen lassen, durchschauen den an sich einfachen Zusammenhang anscheinend nicht und sind stattdessen froh, endlich irgendjemanden konkret für alles Übel verantwortlich machen zu können.
Dieser unheilvolle Trend wird gestützt und beschleunigt durch die „Sozialen Medien“. Hat man sie noch vor wenigen Jahren während des „arabischen Frühlings“ als wunderbares Werkzeug der Demokratie gefeiert, so entpuppen sie sich jetzt als heimtückischer Massenproduzent falscher Wahrheiten, der die offene Gesellschaft bedroht. Durch den verstärkten Einsatz digitaler Algorithmen werden so genannte „Filterblasen“ und „Echoräume“ erzeugt, in denen im Endeffekt jedem genau die Wirklichkeit vorgaukelt wird, die seinen Werten und Vorurteilen entspricht. Es geht bereits die Runde vom „postfaktischen Zeitalter“, also einer neuen geschichtlichen Episode, in der nicht mehr die Fakten zählen, sondern die beste Methode zur Lügenverbreitung. Evelyn Roll schreibt in ihrem lesenswerten Artikel „Die Lüge“ in der Wochenendausgabe der SZ vom 19/20 November zu Recht: „Wer vom postfaktischen Zeitalter spricht, hat die Demokratie schon aufgegeben.“
Wollen wir hoffen, dass die vierte Gewalt, die diesen Begriff derzeit gerne verwendet, das noch nicht getan hat. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass auch sie „postfaktische“ Tendenzen zeigt. So absurd der pauschale Vorwurf der Lügenpresse seitens fehlgeleiteter Wutbürger auch ist, so sehr muss man leider auch zugeben, dass die Presse seit einigen Jahren gerade bei denjenigen, die eigentlich an die Bedeutung der Pressefreiheit glauben, Vertrauen verspielt, indem sie sich eines Instruments bedient, das sie liebevoll „Advertorial“ nennt. Mit diesem harmlosen Zwitterwort, einer Mischung aus „Advertisement“ (Anzeige) und „Editorial“ (Leitartikel) sind als redaktionelle Beiträge getarnte Werbeanzeigen gemeint. Die leeren Kassen der Printmedien freut´s. Und die Tatsache, dass die Existenz der Printmedien zunehmend vom Internet bedroht ist, fördert die Verbreitung dieser Praxis schon seit längerem.
Der Journalismus ist im Laufe der Jahre in eine Identitätskrise geraten. Jahrzehntelang war der investigative Journalismus die Krönung und der größte Stolz der Zunft. Meisterstücke wie die Aufdeckungsartikel der Washington Post zur Watergate-Affaire gehören zu den gefeierten Heldengeschichten der vierten Gewalt. In der Bundesrepublik war es vor allem der „Spiegel“, der den Mächtigen gerne selbigen vorhielt und mit so mancher Skandalenthüllung für Transparenz sorgte, wo andere Institutionen der offenen Gesellschaft versagten. Das Gegenteil dieses heldenhaften Journalismus´ repräsentierte die Zeitung „Bild“, die lieber dem Volk auf´s Maul schaute und gerne einfach nur weit verbreitete Vorurteile bestätigte. Während die einen also den Anspruch hatten, die Öffentlichkeit mit für diese schwer zugänglichen Informationen zu versorgen, hatten die anderen lediglich den Wunsch, hohe Auflagen zu realisieren, indem sie das schrieben, was viele Leser leicht aufnehmen und – da es wunderbar in ein einfaches Weltbild passt – ebenso leicht einordnen können, wobei die Wahrheit bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielte.
Anspruchslosen, verwerflichen Journalismus gab es somit schon früher, aber die ethische Einordnung dessen, was guter und was schlechter ist, war klarer und eindeutiger, insbesondere für den Nachwuchs. Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ oder Günter Wallraffs „Anti-Bild-Triologie“ wurden zwar trotz ihres Erfolges sicherlich nicht von der großen Masse gelesen und bejubelt, doch sie waren starke Waffen in den Händen der Intellektuellen. Und sie stärkten auf diese Weise das Ideal des vorbildlichen Journalisten, der sich vor allem der Wahrheit und der Aufklärung verpflichtet sah. In Deutschland stammte zudem die prinzipielle Skepsis gegenüber Massenphänomenen und einfachen Wahrheiten aus den Erfahrungen des Dritten Reichs. Sie verlieh der kritischen Intellektuellenschicht lange Zeit eine gesellschaftliche Bedeutung, die deutlich überproportional zu ihrer Repräsentanz in der Bevölkerung war. Sie besaß trotz ihrer zahlenmäßigen Minderheit lange Zeit die moralische Hoheit. Das war – gerade aus heutiger Sicht – vielleicht ein nützliches Korrektiv zu den populistischen Verführungskünsten und damit eine recht gute Konstellation für eine Politik, die sich stärker an Wahrheiten und anderen ethischen Geboten orientiert.
Seit einigen Jahren ist die Grundskepsis gegenüber der Volkes Stimme gesunken, und der Blick richtet sich wieder zunehmend auf die Meinung der Massen. Und mit diesem Skepsisverlust gegenüber Massenbewegungen verliert auch der Ethos vom investigativen und unabhängigem Journalismus seine einst so starke Bedeutung. Die junge Generation dieses Berufszweigs unterscheidet sich bereits sichtbar von der alten. Sie sieht ihre Aufgabe heute viel stärker in einer Art journalistischer Unterhaltung. Wahrscheinlich hält sie die Freiheiten, die sie gerade in ihrem Beruf genießt, für ewig gesichert. Die Flüchtlingswelle mit der Erstarkung fremdenfeindlicher Bewegungen hat den Journalismus jedoch in nicht für möglich gehaltener Geschwindigkeit in eine Krise gestürzt, auf die er nicht vorbereitet war. Das rief in der Branche eine erstaunliche Verunsicherung hervor:
Was ist die Aufgabe der Medien? Sollen sie aufklären und belehren – oder nur berichten? Reicht es aus, die Meinung anderer Menschen wertungsfrei zu verbreiten? Wann muss man Kritik ernst nehmen? Muss man sich etwa als Lügenpresse beschimpfen lassen, weil man offensichtlich dummen, falschen oder menschenverachtenden Meinungen keine Plattform bieten will? Ist die freie Presse verpflichtet, auf jede Meinung einzugehen, gleichgültig ihres ethischen Gehaltes? Wann darf oder muss ein Journalist seine eigene Meinung wiedergeben und wo ist diese überflüssig oder sogar anmaßend? Ist eine Presse, welche die Werte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hochhält, tatsächlich abgehoben vom Volk? Heißt Pressefreiheit vielleicht sogar, auch frei von der Pflicht zu sein, für die Werte der offenen Gesellschaft aktiv einzutreten? Bei der letzten Frage wird man sich hoffentlich noch sicher sein, sie mit einem klaren „Nein“ beantworten zu müssen. Doch was das für die Antworten der übrigen Fragen bedeutet, ist ungewiss geworden.
Politik und Presse stehen mittlerweile vor demselben Dilemma. Beide müssen um die Gunst der Bürger, von denen sich immer mehr gegen einige unverhandelbare Grundwerte der offenen Gesellschaft bekennen, buhlen. Der Politikertyp, der mit festen Überzeugungen in politische Ämter strebt, weil er seinen Idealen zur Geltung verhelfen will, droht ebenso auszusterben, wie der Journalistentyp, der es als seine oberste Pflicht ansieht, die Funktion der vierten Gewalt auszuüben. Stattdessen zählen die kurzfristigen und quantitativen Kriterien immer stärker: Die Stimmen bei der nächsten Wahl, beziehungsweise die Verkaufszahlen der nächsten Auflage. Und da scheint vielen jedes Mittel recht – manch einer macht daraus keinen Hehl mehr.
Das gilt nicht nur für einige ehrgeizige Jungpolitiker, deren größte Überzeugung es ist, sie selbst seien die beste Besetzung für das tägliche Polit-Theater. Auch der Presse fehlen oft die Ideale. Als jüngst die britische „Daily Mail“ drei Richter bezüglich ihres Urteils zum Brexit, wonach trotz des Referendums letztendlich das Parlament entscheiden dürfe, mit der Schlagzeile „Feinde des Volkes“ öffentlich anprangerte, rechtfertige man sich dort vollkommen selbstverständlich damit, dass man schließlich Zeitungen verkaufen müsse. In Großbritannien, deren Boulevard-Presse ohnehin als sehr rücksichtslos gilt, ist jetzt eine Debatte über deren gänzliche Verrohung ausgebrochen. Da stellt sich die Frage, ob die grenzenlose Respektlosigkeit, die sich – wie in diesem Fall – sogar schon gegen eine Verfassungsregel richtet, tatsächlich im Sinne der Idee von Presse- und Meinungsfreiheit, welche die Demokratie schützen soll, ist. Das alles riecht nach Erosion des ethischen Fundamentes von Demokratie und offener Gesellschaft. Der Journalismus darf seine Identität als wichtige vierte Gewaltinstanz nicht verlieren und muss den Kampf gegen den zynischen Populismus mit aller Entschlossenheit und Kraft aufnehmen.