Ein Merz für Freiheit

Man darf von Führungspersönlichkeiten, welche die höchsten Ämter im Staat anstreben, wohl ein großes analytisches und ethisches Verständnis erwarten. Das gilt auch für Friedrich Merz, der sich für die Führung der stärksten Partei Deutschlands empfiehlt, und im Alter fortgeschrittener Weisheit sich erst recht keine unausgereiften Statements leisten sollte.

Wie muss man es dann bewerten, dass er jetzt in Zusammenhang mit den weihnachtlichen Corona-Einschränkungen nicht nur Vorschriften für die Zusammenkünfte von Familien kategorisch ablehnt, sondern es auch für dringend geboten hält, Menschen, die zukünftig geimpft sein werden, umgehend wieder jede Freizügigkeit zu erlauben. Grundrechte seien, so argumentiert Merz, Individual- und keine Kollektivrechte (siehe Nachrichten DLF vom 20.12.2020). Daher müssten Einschränkungen auch individuell begründet werden. Man könne nicht einfach sagen, man warte ab, bis es eine Herdenimmunität gebe.

Hört, hört! Das klingt gut durchdacht. Ist es aber nicht. Zum Thema Freiheit lässt sich Vieles, auch Kontroverses sagen, was den vorliegenden Rahmen sprengen würde. Im Falle von Merzens Statement genügt es, auf einen unstrittigen Konsens in der einschlägigen Literatur zu verweisen. Man kann diesen vielleicht mit folgendem Satz grob zusammenfassen: Die Freiheit des einen muss sich stets an der Freiheit seiner Mitmenschen messen lassen. Oder wie es Immanuel Kant allgemeiner und genauer in seinem berühmten kategorischen Imperativ formulierte: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Auch wenn sich nicht jeder und schon gar nicht immer daran hält, so ist das doch ein ethisches Gebot, das jeder freiheitlichen, offenen Gesellschaftsordnung zugrunde liegt. Wer ein Höchstmaß an individueller Freiheit genießen will, muss stets auch Einschränkungen in Kauf nehmen. Das ist kein Widerspruch. Insofern gehört zur individuellen Freiheit immer auch individuelle Verantwortung – ein unverrückbares Gesetz der Ethik. Welche Einschränkungen das im konkreten Fall mit sich bringt und wie sie begründet werden, ist von der jeweiligen Situation und Sachlage abhängig. Womit wir bei der Corona-Pandemie angelangt wären.

Wenn die völlige Freizügigkeit von Bürgern zur starken Beeinträchtigung der Gesundheit anderer, bis hin zu deren Tod, führt, sind Einschränkungen trotz und gerade wegen des hohen Wertes individueller Freiheit genauso gerechtfertigt wie Geschwindigkeitsbegrenzungen für Autos oder Rauchverbote in öffentlichen Räumen. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit gehört nämlich ebenfalls zu den Freiheitsrechten unserer liberalen Verfassung. Und dieses Grundrecht ist – in Merzens Worten – ebenfalls ein individuelles und natürlich kein kollektives.

Friedrich Merz ist entweder nicht gut genug informiert oder begeht einen logischen Denkfehler, wenn er meint, dass Geimpfte automatisch von der Verantwortung, auch die Unversehrtheit ihrer Mitmenschen zu bedenken, befreit werden können. Nach bisheriger Erkenntnis ist es nämlich so, dass die Impfung zwar einen Eigenschutz bietet, aber möglicherweise keinen Fremdschutz, sodass man, ohne selbst eine Erkrankung zu riskieren, weiterhin das Virus übertragen kann. Sollte sich das bewahrheiten, gilt es, solange einschränkende Rücksicht gegenüber Nicht-Geimpften zu nehmen, bis jeder die Möglichkeit bekommen hat, sich durch eine Impfung zu schützen, was letztendlich dem Status einer Herdenimmunität gleichkäme.

Merzens Forderung, als Geimpfter die Herdenimmunität nicht abwarten zu müssen, ist damit unbegründet. Lediglich das Verhalten gegenüber den bereits Geimpften kann sich verbessern. Wenn man also beispielsweise Angehörige in einem durchgeimpften Alterswohnheim besuchen will, eröffnet das wieder Möglichkeiten. Wenn hingegen Geimpfte etwa im Supermarkt wahllos auf noch nicht Geimpfte treffen, so ist nach wie vor für alle dieselbe Vorsicht geboten. Das hat weder etwas mit einer Differenzierung von individuellen versus kollektiven Grundrechten zu tun, noch gibt es einen berechtigten Anlass dafür, sich im Namen der Freiheit frühzeitig aus der Verantwortung gegenüber Nicht-Geschützten zu ziehen.

Auch im Wahlkampf – so mein Rat an Merz – sollte Treffsicherheit vor Schnelligkeit gehen. Schließlich ist es das, was man von guten Führungspersönlichkeiten erwartet.

Kommentieren

* All fields are required

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.