Demokratische Echo(T)Räume

Das Leben in Filterblasen und Echoräumen ist im Grunde kein neues Phänomen, obgleich es sich heutzutage mithilfe moderner Digitaltechnologie in unverschämt offener Gestalt präsentiert. Gemeint sind algorithmisch gesteuerte Zusammenführungen von Verschwörungsmythen und Meinungsäußerungen, die sich inhaltlich gegenseitig bestätigen. Eine Kommunikation, die auf dem Prinzip der Übereinstimmung aufbaut. Kritik und Skepsis werden hingegen systematisch aussortiert. Am Ende steht eine vermeintlich einmütige Wahrheit. Doch diese so genannte „Wahrheit“ ist keine Entdeckung, sondern eine gesteuerte Produktion. Auf diese Weise lassen sich unzählige „alternativen Fakten“ produzieren, ungeachtet ihrer Plausibilität oder gar wissenschaftlicher Überprüfung. Wahrheit wird in dieser Lesart zu einem profanen Produkt wie Zahnpasta, Waschmaschine oder Tiefkühlpizza. Man muss sie nur oft genug anpreisen, und schon finden sich genügend Menschen, die sie abkaufen.

Die digital erzeugten Filterblasen und Echoräume, die vorgaukeln, dass die eigene Meinung der Wahrheit entspricht und von der Mehrheit bestätigt wird, wurden in der einschlägigen Literatur bereits häufig mit dem typischen Geschwätz an traditionellen Stammtischen verglichen, wo sich regelmäßig Gleichgesinnte treffen, um sich gegenseitig ihre vorgefassten, harmonisierten Meinungen zu bestätigen. Auch dort – so zumindest das Klischee – schaukeln sich Bier trinkende Männer gerne großmäulig und unkritisch durch emotional geladene Bestätigungstiraden gegenseitig hoch, bis es nur noch eine unverrückbare Wahrheit gibt. Doch man muss weder ein Mitglied altmodischer Stammtische noch neumodischer Social Media Apps sein, um in einem unkritischen Echoraum zu landen. Ein prinzipiell ähnlicher Effekt entsteht auch, indem man das persönliche soziale und kulturelle Umfeld – Freundeskreis, Tageszeitung, Fernsehsendung, Theater, Verein, Konzert, Partei, Kollegium et cetera – nach dem Kriterium der Übereinstimmung von Meinungen und Gewohnheit formt.

Wer kennt das nicht? Man sucht die Nähe von Gleichgesinnten und distanziert sich von Andersdenkenden. Vereinzelt aufkommende Zweifel werden auch in diesen Echoräumen gerne verdrängt. Überzeugungen, Harmonie und Konsens sollen nicht gefährdet werden. Unser Bedürfnis nach gesicherten Erkenntnissen und einem harmonischen Miteinander wird paradoxerweise ergänzt durch ein Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber Andersdenkenden. Das schafft Identität und schiebt den schwarzen Peter ins gegnerische Feld.

Das alles ist menschlich. Aber eine Gesellschaft als ganze kann nur dann funktionieren, wenn sie wenigsten auf einem Grundkonsens aufbaut, den auch alle Echoräume teilen müssen. Man darf sich in vielen Einzelfragen uneinig sein. Ansonsten wären demokratische Einigungsprozesse ja auch vollkommen überflüssig. Doch Einigkeit muss darüber bestehen, wie man mit Meinungsverschiedenheiten umgeht. In einer Demokratie heißt dieser Grundkonsens eigentlich: Unterschiedliche Interessen und Ziele sowie unterschiedliche Vermutungen darüber, wie übereinstimmende Ziele am besten erreicht werden können, werden öffentlich diskutiert und anschließend durch Abstimmung aller Wahlberechtigten direkt – oder indirekt durch Repräsentanten – entschieden. Die Ergebnisse der Abstimmungen müssen am Ende von allen akzeptiert werden.

Es ist gewiss nicht das erste Mal, dass technologischer Fortschritt zweischneidig daherkommt und der Menschheit nicht nur Nutzen bringt, sondern auch Schaden verursacht. Mit Verbreitung des Internets, in Verbindung mit Mobilfunk und Social Media Apps, haben wir diese Zweischneidigkeit ebenso kennengelernt. Bei allen Vorteilen ist etwa die Leichtigkeit, mit der jedes Gesellschaftsmitglied beliebig lügen und Irrsinn verbreiten kann, sicherlich bedenklich. Doch eigentlich ist es nicht die neue Technologie, welche die Demokratie bedroht. Das Problem sitzt tiefer.

Wir sollten aus den jüngeren Erfahrungen wieder alte Weisheiten auffrischen: In einer demokratischen Gesellschaft ist es systemrelevant, dass ihre Bürger auf breiter Ebene mit einem logisch und ethisch gehaltvollen Geist ausgestattet sind, der es ihnen erlaubt, einem vernünftigen demokratischen Dialog zu folgen, verantwortungsvoll zu wählen und die resultierenden Kompromisse als gemeinschaftliche Errungenschaft zu begreifen und nicht als inakzeptable Abweichung der persönlichen Meinung. Echte Demokratie lebt von einer offenen, geordneten und toleranten Kommunikation, die den Mitbürgern Respekt erweist und den besseren Argumenten Geltung verschafft. Dort, wo eine Auseinandersetzung argumentativ zu keiner Lösung führt, müssen freimütig Kompromisse gemacht werden. Je mehr von dieser Grundhaltung fehlt, desto weniger funktioniert das demokratische System. Wollen wir daher die Funktionsfähigkeit unseres liberalen, demokratischen Gesellschaftssystems bewahren, müssen wir sehr viel mehr Engagement für die Bildung und Erziehung unseres Nachwuchses aufbringen. Der eigentliche Wohlstand demokratischer Staaten besteht nicht etwa aus ihrem materiellen Überfluss, sondern aus ihren individuellen Freiheiten, der breit angelegten Partizipation, einem anerkannten wissenschaftlichen Prinzip und einer gelebten Menschenwürde. Wenn wir diese wertvolle Substanz unserer Gesellschaft erhalten wollen, müssen wir stetig in sie investieren.

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