Ein deutscher Satiriker schreibt ein grottenschlechtes Gedicht, und in der Türkei fällt das Staatsoberhaupt vom Stuhl. Das hat schon einen eigenen Witz. Dem Lausbuben Böhmermann droht nun die Staatsgewalt. Das erinnert an Wilhelm Buschs Max und Moritz, die es mit ihren schlechten Scherzen einfach zu weit getrieben haben und am Ende bitter dafür zahlen mussten. Kennt der junge Böhmermann die Moritaten von Busch etwa nicht mehr? Jetzt musste er erstmal flüchten und sich irgendwo verstecken – vielleicht in einen Holzschuppen, wo er Figuren schnitzt, bis die Luft wieder rein ist, so wie einst Michel aus Lönneberga. Der hatte allerdings immer gute Absichten bei seinen Missgeschicken. Wie verhält sich das bei Böhmermann? Eher wie bei Max und Moritz oder wie bei Michel?
So geschmacklos das Gedicht auch war, so genial hat es eine Auseinandersetzung ausgelöst, anhand derer nun jeder erkennen kann, welche Unterschiede zwischen dem Demokratieverständnis von Erdogan und unserem besteht. Sollte Böhmermann genau das mit seiner vorsätzlichen Geschmacklosigkeit beabsichtigt haben, dann war das trotz der ästhetischen Wertlosigkeit seiner Reime ein wirkungsvoller künstlerischer Akt, der eher in die Kategorie von Joseph Beuys´ schmutziger Badewanne als zu der von Hape Kerkelings Hurz-Gesang gehört.
So weit so gut, wäre da nicht die Ebene der persönlichen Beleidigung. Zu Recht wird immer wieder kritisiert, dass der Ton der Auseinandersetzungen – etwa im Internet oder auf Pegida-Demos – unterirdisch ist. Dagegen wird gerne auch mal geklagt, weil es eben nicht nur um das hohe Gut der freien Meinungsäußerung geht, sondern auch um die Würde des Menschen. Wenn Deutschlands Nachwuchssatiriker von Erdogan als einem Kinderpornos schauenden Ziegenficker mit einem kleinen Schwanz spricht, hat das wohl kaum etwas mit Meinung zu tun. Aber Böhmermanns Gedicht bezieht sich auch auf Erdogans Umgang mit seinen politischen Gegnern und der kritischen Presse. Unter dem Strich ist es aber gewiss keine politische Streitschrift, sondern eine einzige Beleidigung, allerdings motiviert durch Erdogans despotisches Verhalten. Ob es Jan Böhmermann gelingt, diesen Fauxpas mit Narrenfreiheit eines Satirikers zu rechtfertigen, wird vor Gericht zu verhandeln sein. Dagegen ist weder aus rechtstaatlicher noch aus demokratischer Perspektive etwas einzuwenden. Und da Erdogan alle Möglichkeiten ausschöpft, hat er bereits einen persönlichen Strafantrag gestellt, dem nun die Staatsanwaltschaft nachgehen muss.
Bis zu diesem Punkt wäre das alles noch kein Problem und auch kein Grund, sich politisch einzumischen. Böhmermann kannte das Gesetz, er erkennt vermutlich sogar seinen prinzipiellen Sinn und muss nun in Kauf nehmen, wenn er möglicherweise zu irgendeiner Geldbuße verdonnert wird. Das ist der Preis für sein Kunstwerk, sofern es denn eines ist. Was die Angelegenheit nun aber kompliziert macht, ist der noch aus Kaisers Zeiten stammende Paragraph 103 StGB. Dieses Gesetz gegen Majestätsbeleidigung passt zwar nicht zur Demokratie, existiert aber leider immer noch. Obwohl es – entgegen einem weit verbreiteten Glauben – nicht einmal den Tatbestand der „Beamtenbeleidigung“ gibt, der eine Beleidigung gegenüber Staatsbediensteten schwerwiegender einstufen würde als gegenüber dem Normalbürger, eröffnet § 103 ausländischen Staatsleuten noch einen Sonderstatus, wenn sich diese beleidigt fühlen. Allerdings muss eine solche Anklage von der Bundesregierung genehmigt werden. Und da Erdogan auch dieses längst entsorgungswürdige Gesetz, das schon einmal in den 70er Jahren vom despotischen persischen Schah genutzt wurde und für Ärger gesorgt hatte, in Anspruch nimmt, droht Böhmermann im schlechtesten Fall eine jahrelange Haftstrafe, auch wenn es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu einem solchen Urteil kommen würde.
Für ein Strafverfahren auf der Basis von § 103 bedarf es aber erstmal einer Genehmigung der Kanzlerin, die damit in der Zwickmühle sitzt. Erlaubt sie das Strafverfahren, verrät sie demokratische Werte an Erdogan, der selbige ohnehin immer wieder mit Füßen tritt. Ein Triumph, den man dem türkischen Staatsoberhaupt keinesfalls gönnen darf. Erlaubt sie es nicht, dann stellt sie sich in den Augen Erdogans hinter Böhmermann und sein Schmähgedicht, was wiederum zur Verstimmung führen und die Flüchtlingsvereinbarung gefährden könnte.
Nun wird der Kanzlerin vorgehalten, sie habe einen Fehler gemacht und sich selbst in diese Dilemmasituation gebracht. Indem sie sich für das Gedicht beim türkischen Staatsoberhaupt entschuldigt habe, sei das Thema von der rechtlichen auf die politische Ebene gehoben worden. Dieser weit verbreiteten Meinung möchte ich allerdings mit Blick auf die Vorgeschichte widersprechen. Schließlich war es Erdogan, der am 22. März den deutschen Botschafter einberufen hatte, als in der NDR-Sendung Extra 3 ein harmloses, aber kritisches Lied über ihn ausgestrahlt wurde, und machte damit erstmalig aus Satire ein Politikum. Merkels erklärende Entschuldigung für das kurz darauf folgende Schmähgedicht war deshalb bereits der erste Versuch, aus der Sache nicht abermals eine politische zu machen. Was wäre gewesen, wenn Merkel vollends geschwiegen hätte? Wäre Erdogan dann etwa nicht auf die Idee gekommen, § 103 zu bemühen? So oder so, die Dilemmasituation war unvermeidbar, eben ein Geniestreich Böhmermanns – wenn auch ein geschmackloser.