Die SPD hat einen Sonderparteitag veranstaltet, um zu sondieren, ob man vielleicht doch in einer „GroKo“ oder einer „KoKo“ mit der Union weiter regieren will. Ergebnisoffene Gespräche wolle man mit den Unionsparteien führen, heißt es jetzt, womit man bis auf Weiteres die Kurzentschlossenheit, auf jeden Fall in die Opposition zu gehen, wieder aussetzt. Doch geht es in der aktuellen Orientierungsphase der SPD längst nicht mehr nur um diese konkrete Entscheidung. Sie ist verknüpft mit der generellen Frage nach der Überlebensfähigkeit als Volkspartei. Es geht um die Identität der Partei. Insbesondere beim Nachwuchs der SPD machen sich diesbezüglich mittlerweile Existenzängste breit. Der Juso-Chef Kevin Kühnert fand in seiner Parteitagsrede klare Worte: „Wir haben ein Interesse daran, dass hier noch was übrig bleibt von diesem Laden, verdammt nochmal“. Dieses Interesse dürften wohl alle Delegierten teilen. Doch war die nachdrückliche Interessensbekundung des Nachwuchses natürlich gleichzeitig eine Aufforderung an die Parteiführung, neue Wege zu gehen.
Seit Gerhard Schröders Kanzlerschaft und der grandiosen Aufholjagd in seinem allerletzten Wahlkampf, den er am Ende mit 34,2 Prozent nur denkbar knapp gegen Angela Merkel verlor, hat es kein SPD-Kandidat je wieder zu einem ähnlich stolzen Ergebnis gebracht: Steinmeier 23 Prozent, Steinbrück 25,7 Prozent und Schulz sogar nur 20 Prozent – die drei schlechtesten Ergebnisse der SPD seit Bestehen der Bundesrepublik. Der Abstand zur CDU/CSU liegt seither zwischen 10 und 15 Prozentpunkten. Diese deutliche Differenz zwischen den beiden großen Volksparteien wurde nur in den 1950er Jahren übertroffen, als Ollenhauer zweimal weit hinter Adenauer zurückfiel. Allerdings wäre man mit Ollenhauers Stimmenanteil heute mehr als zufrieden.
Natürlich stellt sich da die Frage, wie viel Verantwortung ein Spitzenkandidat, der ja zumeist auch wie im Fall von Schulz Parteivorsitzender ist, für den jeweiligen Wahlausgang trägt. Der SPD-Vorstand versteht das Problem hauptsächlich als eines der Außenwahrnehmung: Die SPD mache einen super Job, aber keiner merke es, weil die Lorbeeren stets mit präsidialem Gestus von der ewigen Kanzlerin eingeheimst werde . Schulz, der die bundesdeutsche Negativrekordliste gescheiterter SPD-Kandidaten klar anführt, sieht sich offenbar nicht hauptverantwortlich für das schlechte Ergebnis. Obwohl er auf dem Parteitag brav für seine Teilschuld am Misserfolg um Verzeihung bat, will er Lenker und Gesicht der geschichtsträchtigen Volkspartei, deren Volk mächtig geschrumpft ist, bleiben. Und man hat ihn auch wieder brav gewählt, obgleich mit sehr viel weniger Stimmen als beim ersten mal, als er sagenhafte 100 Prozent erreichte. Scheinbar halten es Schulz und knapp 82 Prozent der Delegierten für möglich, dass er den Karren wieder aus dem Dreck ziehen kann.
Aber ist es tatsächlich denkbar, dass die SPD unter dem Vorsitz eines deutlich gescheiterten Kandidaten einen Wandel, eine Parteireform, ein Profil-Relaunch hinbekommt und wieder zu einer Volkspartei mit 30 plus X Prozent erwacht? Nein! Es spricht zu viel gegen diese Logik und auch die Erfahrung zeigt, dass so etwas nicht gelingt. Mir ist jedenfalls kein vergleichbarer Fall mit gutem Ausgang bekannt. Gewiss, man kann und sollte nach einer verlorenen Wahl analysieren, was den Wählern am Programm wohl nicht gefallen hat, wo möglich ein paar Korrekturen vornehmen und bei der Wählerschaft für mehr positive Wahrnehmung sorgen. Doch Politik gestaltet und verkauft man nicht wie einen Schokoriegel oder ein Haarshampoo. Der Effekt dessen, was allein auf dieser Marketing-Ebene möglich ist, wird bestenfalls marginal sein. Die SPD hatte zudem nach drei deutlichen Niederlagen schon genug Zeit, diese Potenziale, sofern sie denn tatsächlich existieren, auszuschöpfen.
Im Gegensatz zum Wettbewerb zwischen Produzenten von Schokoriegeln oder Shampoos ist es im Wettbewerb der Parteien nicht sinnvoll, sich beliebig dem Geschmack der Massen anzupassen. Parteien sind in ihrem Anpassungsspielraum eingeschränkt. Politik hat stets etwas mit Grundüberzeugungen zu tun. Die können nicht mal eben willfährig verändert werden. Parteien und ihre Repräsentanten stehen jeweils für bestimmte Werte und Leitbilder, denen sie treu bleiben müssen, wenn sie nicht jedwede Glaubwürdigkeit und Vertrauen, ihr größtes Kapital, verlieren wollen. Was sie jedoch tun können, ist, ihre Werte vor dem Hintergrund einer sich ständig verändernden Welt immer wieder neu zu interpretieren und entsprechend zu vermitteln. Das hat die SPD lange Jahre versäumt. Stattdessen ist sie mit ihrem letzten innovativen Vorsitzenden immer wieder ins Gericht gegangen. Gerhard Schröder war der letzte Sozialdemokrat, der eine Neuinterpretation sozialdemokratischer Tradition gewagt hat, als er die Hartz-Gesetze einführte, was ihm freilich bis heute in weiten Teilen der SPD zum Vorwurf gemacht wird. Und er war später auch weise genug, seinen jüngeren Genossen die Botschaft zu hinterlassen, dass diese Gesetze schließlich nicht für alle Zeiten in Stein gemeißelt sind.
Mit anderen Worten: Es gehört zu den Pflichten und Aufgaben der Politik, Gesetze immer wieder zu überprüfen und an die historische Zeit anzupassen oder zu korrigieren, wenn sie sich nicht, oder nicht mehr bewähren sollten. Ob das auf Hartz IV zutrifft, sei dahin gestellt. Aber auch hier ist die SPD seit Jahren unentschlossen und insofern orientierungslos. Seit vielen Jahren ist seitens der Sozialdemokratie zudem keine andere politische Innovation vergleichbarer Größenordnung in Sicht. Hat das etwas mit Führungsschwäche oder gar Führungsvakuum zu tun? Selbstverständlich! Es befindet sich niemand in den Führungsetagen der SPD, der oder die sich hier als politische(r) UnternehmerIn empfiehlt. Am dichtesten dran ist nach meiner Einschätzung vielleicht noch Manuela Schwesig. Doch die frisch gebackene Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern muss sich erst noch ein paar Jahre in ihrem Amt beweisen und dann zeigen, dass sie nicht nur als Nachrückerin eines zurückgetretenen Parteigenossen einen Führungsposten erreichen kann, sondern auch durch Wahlen. Andernfalls wird sie zum weiblichen Gabriel, der bekanntlich Schröders Erbe in Niedersachsen war, dann seine erste Landtagswahl verlor, nach Berlin ging, um schließlich siebeneinhalb Jahre lang Parteivorsitzender einer SPD im freien Fall zu werden.
Die Bundes-SPD bewegt sich schon viel zu lange in der Komfortzone, aus der sie sich nicht heraus wagt. Das verärgert besonders diejenigen Wähler, die persönliche Probleme haben, fürchten oder sich diese zumindest einbilden. Andere sind regelrecht gelangweilt von der Einfalt und Fantasielosigkeit der Sozis und neigen zu dem Urteil, man könne ebenso gut auf die SPD verzichten. Die Tatsache, dass Schulz seinerzeit mit dem historisch besten Wahlergebnis zum Parteivorsitzenden gewählt wurde, um dann das historisch schlechteste Ergebnis bei der Bundestagswahl einzuholen, erhärtet nicht nur den Verdacht, dass die sozialdemokratischen Formeln von gestern nicht mehr funktionieren, sondern auch, dass ein 100-Prozent-Vorsitzender, der zu Beginn des Wahlkampfes mit so viel innerparteilichem Konsens gestartet ist, eigentlich nur den Status quo einer Partei bestätigte, die keinen ausreichenden Anklang mehr in der Bevölkerung findet. Die SPD hatte sich mit der einstimmigen Schulz-Krönung quasi nur selbst beweihräuchert, wozu es nun wirklich keinen Grund gab. Verändern wollte man eigentlich nur die Sitzverteilung im Bundestag. Die Anpassung der Programme an die sozialen Herausforderungen einer modernen dynamischen Gesellschaft war hingegen nicht vorgesehen, und ist es wohl bislang noch immer nicht.
Eine große Bereitschaft für eine echte personelle Erneuerung lässt sich ebenfalls nicht erkennen. Stattdessen dreht man das Karussell weiter. Einzige Ausnahme: das Amt des Generalsekretärs. Dass man sich hier zu einem streitbaren, jungen (39) und unverbrauchten Gesicht durchgerungen hat, sollte man fairerweise lobend erwähnen. Lars Klingbeil ist immerhin ein Anfang. Er steht für Digitalisierung und will die Tür zu „jungen Menschen in Wissenschaft, Gewerkschaften und Kulturszene“ öffnen. Das klingt nach Modernisierung und gleichzeitig nach Rückbesinnung auf alte Erfolge, als Brandt und Schmidt nicht nur die Arbeiterschaft ansprachen, sondern auch die intellektuelle Schicht begeisterte. Dass Klingbeil von den Delegierten mit nur gut 70 Prozent gewählt wurde, schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Und das ist gut so. Wer Veränderung will, muss sich auf Auseinandersetzungen und Gegenwind einstellen und aushalten. Hierfür braucht man die richtige innere Einstellung und eine überzeugende Ausstrahlung. Je mehr man verändern will, desto wichtiger werden diese Führungseigenschaften. Die bisherigen sozialdemokratischen Bundeskanzler – Willi Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder – waren damit ausgestattet. Ich denke, Martin Schulz ist es nicht im ausreichenden Maß.
Schulz kann die Rolle eines Reformers, der frischen Wind und neuen Mut mitbringt, nicht, jedenfalls nicht mehr ausfüllen. Das gilt um so mehr, seitdem der Spiegel nach der Wahl den ausführlichen Leitartikel „Die Schulz-Story“ herausbrachte, den der Autor Markus Feldenkirchen auf der Grundlage einer intensiven, 150-tägigen Begleitung von Schulz im Wahlkampf verfasste. Dieser von allen Seiten hoch gelobte Artikel mit ungewöhnlich offenen Einblicken zeichnet einen sympathischen Schulz, der aber schon während des Wahlkampfes selbst nicht an den Erfolg glaubte, der sich teilweise verbiegen musste und der mit der Bürde, die man ihm auferlegte, insgesamt überfordert war. Als Wähler konnte man die Maskerade für den Zweckoptimismus spüren, was meines Erachtens viel zu dem historisch schlechtesten Ergebnis beigetragen hat. Es ist nicht angemessen, Schulz deshalb eine „Schuld“ für das schlechte Abschneiden der SPD zu geben, aber das Experiment ist trotzdem gescheitert. Genauso wenig sollte er jetzt aus Mitleid im Amt gehalten werden. Er hat es leider verpasst, im richtigen Moment zu gehen. Seine erste Ansage nach der Wahl hätte sich nicht auf den Rückzug der Partei, sondern auf seinen persönlichen beziehen sollen. Die Partei wiederum hat es jetzt versäumt, ihm das Mandat zu entziehen, sei es nun aus Anstand oder weil sich die meisten der 600 Delegierten, die ihn zuvor allesamt gewählt hatten, nicht eingestehen wollte, sich so ausnahmslos geirrt zu haben. Wir werden jetzt abwarten müssen, wie die Schulz-Story weitergeht und wie sehr sie mit dem Aufstieg oder dem Niedergang der SPD verbunden sein wird.