TTIP – alles kann, nichts muss

Der Streit um das transatlantische Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) TTIP geht in die nächste Runde. Wirtschaftsminister Gabriel erklärte kürzlich die Verhandlungen für gescheitert, woraufhin er sowohl von Seiten der USA als auch der CDU auf spontanen Widerspruch stieß. Die Sachlage zu diesem Freihandelsabkommen ist vielschichtig und kompliziert, weswegen man selbst nach 14 Verhandlungsrunden über drei Jahre hinweg noch keine Einigung erzielen konnte. Ob ein Abschluss, der zwangsläufig auch Kompromisse enthalten muss, unter dem Strich mehr nützen als schaden würde, lässt sich schwer einschätzen. Das gilt umso mehr, wenn die Inhalte des Vertrages nicht offen kommuniziert werden.

Es gibt zwei Ebenen, auf denen ein solches Abkommen bewertet werden muss. Die erste Ebene geht auf Adam Smith, den Urvater der Volkswirtschaftslehre, zurück und besitzt deshalb unter Wirtschaftswissenschaftlern großes Gewicht. In Smiths berühmtem Werk „Wohlstand der Nationen“, erstmalig 1779 veröffentlicht, kämpft er gegen den damals vorherrschenden Merkantilismus und die Macht der Wettbewerb beschränkenden  Zünfte. Willkürliche Zollbelastungen sollten nach dem wirtschaftspolitischen Leitbild der Merkantilisten Exportüberschüsse „erwirtschaften“, heimische Gewerbe vor Konkurrenz schützen und auf diese Weise einem Land angeblich zum Reichtum verhelfen. Smith zeigte, dass diese Rechnung nicht aufgehen kann. Doch bis heute unterliegen viele Menschen noch dem Zauber der einfachen merkantilistischen Doktrin, freuen sich über dauerhafte, hohe Exportüberschüsse und rufen den Staat reflexartig zur Hilfe, wenn ein Industriezweig trotz vieler prosperierender Jahre irgendwann an internationaler Wettbewerbsfähigkeit verliert.

Für einen Volkswirt, dessen Wissensfundus auf dem Programm des Altmeisters Adam Smith aufbaut, ist es also zunächst einmal sehr befremdlich, wenn 200 Jahre nach dessen Wirken das Volk, das er durch Freihandel von bitterster Armut befreien wollte, sich nun dagegen wehrt und stattdessen wieder für Handelsbeschränkungen kämpft. Doch es gibt noch eine zweite Ebene, die zur Beurteilung eines Freihandelsabkommens berücksichtigt werden muss. Sie mag im 18. Jahrhundert noch keine große Rolle gespielt und deshalb auf Smiths Analyse keinen Einfluss gehabt haben. Doch diejenigen Volkswirte, die ihre Fakultät berechtigter Weise als einen Teil der Sozialwissenschaften verstehen, begreifen Freihandel nicht als heiliges Dogma. Sie wissen, dass man neben den mathematisch beweisbaren Freihandelsvorteilen auch institutionelle Gegebenheiten in die Analyse aufnehmen muss. Hierzu gehören kulturelle wie historische Aspekte, deren Berücksichtigung durchaus zu dem Schluss führen kann, dass Freihandel nicht per se empfehlenswert ist, sondern Nebenbedingungen unterliegt. Im Fall von TTIP betrifft das vor allem die rechtlichen Standards, die den Wettbewerbsrahmen bilden: Verbraucherschutz, Haftung, Gerichtsbarkeit.

Die Materie ist gewiss nicht einfach und eignet sich nicht für flaches Stammtischgeschwätz. Doch sollte man das nicht als Argument dazu missbrauchen, von vornherein die Öffentlichkeit auszuschließen und sie mit den üblichen Versprechungen abzuspeisen. Diese Methode funktioniert heutzutage nicht mehr. Ihre Basis war ein Grundvertrauen der Bürger in die Politik und die intellektuellen Eliten. Doch diese Zeiten sind – mag man es gut finden oder schlecht – vorbei.

Die Befürworter von TTIP sollten jetzt endlich konsequent die Karten auf den Tisch legen und mit ernsthaften und nachvollziehbaren Argumenten – sofern diese überhaupt existieren – für ihre Überzeugung kämpfen. Stattdessen werfen sie immer noch die üblichen Nebelkerzen, locken obligatorisch mit vermeintlich neuen Arbeitsplätzen und malen Drohbilder vom Ende des deutschen Wohlstandes, falls man die historische Chance verpasse. Eine traurige Vorstellung dieser Art gab jüngst der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Michael Fuchs, der sich nicht nur für TTIP stark macht, sondern traditionell auch für den exportstarken deutschen Mittelstand. Der „schlaue“ Fuchs forderte im ZDF Gabriel auf, anstatt TTIP für gescheitert zu erklären, sich jetzt intensiv für dessen Abschluss einzusetzen. Sein mächtig klingendes Argument lautete wörtlich: „Rund 40 Prozent unserer Arbeitsplätze hängen am Außenhandel. Und deswegen erwarte ich, dass der Wirtschaftsminister Parteipolitik hintenan stellt.“ Wie schwach, unaufrichtig und suggestiv dieses Argument ist, lässt sich schnell aufdecken:

Erstens hängen 40 Prozent der deutschen Arbeitsplätze an einem Export, der bislang auch ohne TTIP ausgekommen ist. Das Scheitern würde folglich hieran nichts ändern. Bestenfalls käme es zu keiner Vermehrung von exportbedingten Arbeitsplätzen. Es bleibt reine Spekulation, ob unter dem Strich tatsächlich Arbeitsplätze entstehen – und sogar so viele, dass sie die eventuellen Nachteile aufwiegen.

Zweitens berührt das Abkommen nur Exporte, die in die USA gehen. Zwar gehören die USA zu Deutschlands größten Handelspartnern. Jedoch decken die Ausfuhren dorthin nur etwa 8 Prozent der gesamten deutschen Exportwerte ab. So müsste Fuchs – wenn es ihm auch nur im Entferntesten um Aufklärung ginge – eigentlich sagen, dass lediglich gut 3 Prozent, also 8 Prozent von 40 Prozent, der deutschen Arbeitsplätze am Export in die USA hängen. Und selbst die sind natürlich bei einem Scheitern von TTIP nicht per se gefährdet. Auch ein möglicher Zuwachs an Beschäftigung könnte selbst unter der Annahme einer hohen Rate in absoluten Zahlen gemessen nicht besonders hoch sein.

Wenn Politiker nicht noch mehr Vertrauen bei der Bevölkerung verspielen wollen, müssen sie ehrliche Statements abgeben und nicht versuchen, die Menschen mit vermeintlich geschickter Rhetorik zu manipulieren. TTIP wird man wohl kaum mehr retten können, ohne einen Volksaufstand zu riskieren. Ob das nun gut ist oder schlecht, wird man sehen – oder auch nicht. Der Verdacht, sich ein trojanisches Pferd durch die Tore zu ziehen, ist bei der jahrelangen Heimlichtuerei jedenfalls alles andere als unbegründet. Die Protagonisten von TTIP haben eine große Bringschuld angehäuft und müssen jetzt sehr überzeugende Argumente anführen. Danach sieht es mit Blick auf das Statement von Fuchs nicht aus, eher nach einem Offenbarungseid.

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