Vater aller Populisten

Die „Mutter aller Probleme in Deutschland“ sei die Migration, sagt Bundesinnenminister Horst Seehofer. Dreht der hochrangigen Bundespolitiker jetzt durch? Nein, Seehofer ist kein Trump, auch wenn er sich gerne wie ein Trampel benimmt. Seehofer ist ein sehr talentierter Politiker. Das hat er schon in jüngeren Jahren bewiesen. Doch das heißt leider nicht, dass er seiner Einstellung nach ein Politiker ist, wie sich das viele Bürger und idealistische Demokraten eigentlich wünschen. Seehofers Talente beziehen sich auf die Beherrschung der Kommunikation in unserem politischen System. Darin ist er gut, vielleicht sogar sehr gut. Er weiß sehr genau, welche Statements er raushauen muss, damit er seine Klientel zufriedenstellt, ohne seinen Gegnern zu viel Angriffsfläche zu bieten. Und er weiß, wann man eine Pause einlegen, lockerlassen und sich zwischenzeitlich wieder als Teamplayer präsentieren muss. Das Wechselspiel zwischen Heile-heile-Gänschen und In-die-Wunde-hauen beherrscht unser Vollbluthorst perfekt.

Skrupel darf man bei alledem allerdings nicht haben. Und in dieser Sache wird Seehofer ein wirklich großer Segen zuteil. Ethische Grenzen setzt er sich kaum, obgleich er, wenn nötig, ethische Bekenntnisse wie Kaninchen aus dem Hut zaubern kann. Übrigens ist das ein Verhaltenskonzept, das auch den unter Druck geratenen sächsischen Ministerpräsidenten auszeichnet, obgleich der junge Kretschmer noch ein bisschen üben muss, um in Seehofers Liga mitspielen zu können.

Populistische Strategien – also die skrupellose Ausrichtung an emotionalen Stimmungen im Volk – kommen bei nachdenklichen, mitunter sachkundigen Bürgern meist nicht gut an. Aber bei politisch durchschnittlich Interessierten oder gar Desinteressierten, die sich nun einmal in der Mehrheit befinden, ist das schon anders. Darum weiß ein Seehofer auch nur allzu gut. Und ein Kretschmer ahnt es zumindest und fuhr mit dieser Ahnung bislang ebenfalls recht gut. Politiker dieses Schlages haben keinen inneren ethischen Kompass, der ihnen den Weg weist. Ihr Kompass ist die Stimmung im Volk. Hier erweist sich ein Handicap in der Persönlichkeit, das Fehlen von Skrupeln, als äußerst hilfreich für die politische Karriere. Wer in das Stammtischgeschwätz miteinstimmt, hat schließlich gute Chancen gewählt zu werden.

Was macht man mit dieser Erkenntnis nun als überzeugter Demokrat und Humanist? Ist alles in bester Ordnung, wenn Politiker dem Volk auf´s Maul schauen? Reicht das zur Verwirklichung unserer Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität? Oder soll man das Volk, die Politiker oder gar die ganze Demokratie verfluchen, weil nicht alles so läuft, wie man sich das wünscht? Ich bin mir sicher, dass sich diese Frage derzeit viele Idealisten stellen. Eine einfache Antwort hierauf habe ich nicht. Doch man kommt vielleicht mit dem Ausschlussprinzip weiter: Will man einen Systemwechsel, weil die repräsentative Demokratie Populisten wie Seehofer, Kretschmer oder Gauland begünstigt? Nein. Da müsste man erstmal eine bessere Alternative für Deutschland zur Wahl haben. Opportunistische Persönlichkeiten werden zudem in anderen politischen Systemen mindestens ebenso in ihrer Karriere begünstigt. Eine freiheitliche Demokratie bietet außerdem auch Bürgern mit tiefen Überzeugungen die Möglichkeit, den Weg in Amt und Würden zu finden – auch wenn es für solche Menschen oft schwerer ist, im Haifischbecken zu überleben.

Soll man dann lieber das Volk, oder besser: den Teil des Volkes verfluchen, der solche Politiker wählt? Dazu neige ich zugegebenermaßen schon eher – rein emotional natürlich. Und da bin ich allem Anschein nach nicht der einzige. Denkt man aber ehrlich und mit klarem Verstand darüber nach, dann muss man zugeben, dass es weder ethisch noch logisch haltbar ist, wenn man erwartet, dass andere genauso wählen würden wie man selbst, wenn sie sich nur besser informieren und mehr nachdenken würden. Auch wenn das im Einzelfall durchaus zutreffen mag, als Pauschalurteil ist das anmaßend und führt das demokratische System geradezu ad absurdum. Dann könnten wir nämlich nach Platonischer Doktrin genauso gut die weisesten Philosophen regieren lassen.

Übrig bleibt eigentlich nur noch, die Politiker zu verfluchen. Allerdings wäre es dumm, dies pauschal zu tun, was leider weit verbreitet ist. Und weil das so ist, versuchen populistische Politiker neuerdings auch diese Stimmung zu bedienen, indem sie sich vom Establishment bewusst distanzieren. Donald Trump hat es vorgemacht. Aber er ist keinesfalls der einzige, der auf dieser Schiene punktet. Die AfD tut es und Seehofer ebenfalls. Wir müssen darauf achten, dass sich kein Virus in unser politisches System einschleicht, der zu seiner Selbstzerstörung führt. Ob rein opportunistisch handelnde Politiker, zu denen ich Seehofer zähle, dem Erhalt des Systems noch dienen, bezweifle ich. Wenn solche Politiker ein Garant für gute Politik wären – was sie uns glauben machen wollen -, dann gehört der Beruf „Politiker“ zu den ersten, die der Digitalisierung gänzlich zum Opfer fallen werden. Für die Identifizierung von Stimmungen und Meinungen und entsprechenden politischen Entscheidungen lassen sich Algorithmen schreiben.

Dass Seehofer zu den Populisten zählt, denen man zutrauen muss, dass sie im Zweifel jedes ethische Prinzip einer mehrheitsfähigen Volksmeinung unterordnen würden, steht für mich mittlerweile außer Frage. Seehofer würde – um mit seinen Worten zu sprechen – seine Mutter verkaufen, wenn er dadurch alle seine Probleme lösen könnte. Es wunderte mich nicht, als er vor einigen Monaten in einem Interview die Frage, ob es in der Politik Freundschaften gebe, mit einem entschlossenen „Nein“ beantwortete. Hier spiegelt sich Seehofers ethische Haltung wider. Natürlich gibt und gab es in der Politik Freundschaften, wichtige, zuverlässige Freundschaften, sogar auf internationaler Ebene. Sie waren manchmal gut und manchmal schlecht für die Menschen. Dass aber Horst Seehofer offenbar keine Freunde in der Politik und vielleicht auch nirgendwo sonst hat, sagt viel über ihn und seine Strategie, die auf Bindungslosigkeit und maximale Beinfreiheit baut. So fühlt er sich niemandem verpflichtet und bleibt maximal flexibel, jede Stimmung im Wahlvolk bedienen und schüren zu können – letzten Endes mit dem einzigen Zweck, seine Machtposition zu stützen.

Macht ist für jeden ambitionierten Menschen verführerisch. Und den Willen zur Macht kann man gerade politischen Führern nicht ernsthaft vorhalten. Doch muss dieser Wille zur Macht eingebettet sein in ethische Überzeugungen, die sich nicht nur abstrakt, sondern sehr konkret mit den Grundwerten unserer Verfassung vertragen. Mit seiner jüngsten Äußerung hat Seehofer abermals gezeigt, dass er bereit ist, offensichtlichen Unsinn zu verkünden, nur um denen zu gefallen, die Hilfebedürftige für alles Unheil in unserer Gesellschaft verantwortlich machen. Das ist gewiss nicht der Geist unseres Grundgesetzes. Mit Seehofer ist die AfD quasi schon im Innenministerium angekommen.

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