Überforderung oder Überheblichkeit eines Ministers

Was darf man von einem Minister erwarten? Ausführliche Erörterung der Sachlage. Abwägung berechtigter Interessen. Weitsichtigkeit. Verantwortungsvolle Entscheidungen. Ethische Korrektheit. Führungsstärke. Sach- und Menschenkenntnis. Kommunikatives Talent. Wenn er bei alledem noch ein beeindruckendes Auftreten hat, ist das gewiss nicht von Nachteil. Schaut man auf unseren Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, so kann man ihm bestenfalls die beiden letzten oberflächlichen Fähigkeiten zuschreiben. Sobald es um die tieferen Kategorien geht, patzt der höchste Amtsträger regelmäßig. Im Ankündigen von Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie war er stets voreilig, seine Entscheidungen oft nicht nachvollziehbar.

Einverstanden, der noch recht junge Jens ist unerfahren und darf Fehler machen. Doch wäre sein Ehrgeiz, aus Fehlern zu lernen, so groß wie der, Karriere zu machen, hätte auch das Volk, dem er schließlich dienen soll, etwas davon. Doch Spahn zeigt aktuell abermals, was ihm fehlt, um ein guter Minister zu sein, ein umsichtiger Gesundheitsminister, den wir in dieser Zeit dringend gebraucht hätten. Da ist erstens sein Versuch, ungeprüfte, möglicherweise wenig wirksame Masken, die nicht ohne Grund massenhaft ungenutzt eingelagert wurden, an bedürftige Menschen, wie Obdachlose oder Behinderte, zu verteilen. Das macht ihn eines üblen Menschenbildes hochverdächtig. Ich will mich an dieser Stelle nicht weiter hierüber auslassen, auch weil es wohl noch einer detaillierten Aufklärung bedarf. Sollte er jedoch die Vorwürfe erwartungsgemäß nicht ausräumen können, bedarf eine Rücktrittsforderung keiner klugen Begründung mehr. Leichter konnte er es dann den Kritikern nicht machen.

Was man aber schon jetzt hinreichend beurteilen kann, betrifft seine jüngste Entscheidung, die Impfungen für alle ab 12 Jahren freizugeben. Auch hier wollte sich der Minister offensichtlich abermals als Verkünder froher Nachrichten profilieren, anstatt mit Weitsicht und unter Abwägung der relevanten Aspekte verantwortungsvoll zu entscheiden. Die frohe Botschaft entbehrt jeder sachlichen Grundlage. Weder reichen die vorhandenen Impfdosen aus, noch die Leistungskapazitäten der Arztpraxen. Ob Spahn für mehr Impfstoffe hätte sorgen können, kann ich in letzter Konsequenz nicht beurteilen. Dass die ungebremste Freigabe zum jetzigen Zeitpunkt nicht zur Knappheit der Impfstoffe passt, lässt sich hingegen durch reine Logik erschließen.

Wer dieser Tage eine Hausarztpraxis betritt, kann die zusätzlich und unnötig herbeigeführte Überlastung hautnah miterleben. War es etwa nicht vorhersehbar, dass die Praxen aufgrund Spahns vollmundiger Freigabe einem Ansturm ausgesetzt werden, den die Ärzte und vor allem ihr geplagtes Fachpersonal aufgrund fehlender Impfstoffe selbst unter größter Opferbereitschaft nicht abarbeiten können? Die Situation ist für die Arztpraxen schon seit vielen Monaten äußerst angespannt, weil die Nachfrage nach Impfungen nicht ausreichend befriedigt werden kann. Wie um alles in der Welt kommt der Minister nun auf die Idee, den Druck durch seine Ansage, jetzt dürften sich sogar alle ab dem zwölften Lebensjahr um einen zeitnahen Termin kümmern, weiter anzuheizen? Damit kein falscher Eindruck entsteht: Dies ist kein Plädoyer gegen die Impfung von Zwölfjährigen. Doch solange nicht genug Impfstoff vorhanden ist, sollten weiterhin impfwillige Bürger mit Priorität bedient werden, die aufgrund ihrer Konstitution oder ihrer beruflichen Verpflichtungen einer besonderen Gefährdung ausgesetzt sind. Und davon gibt es noch genügend. Man denke nur an Lehrer und Erzieherinnen oder Beschäftigte im Einzelhandel.

Das Gesundheitsministerium unterhält circa 700 Mitarbeiter. Man sollte annehmen, dass ein Minister, der in der Entscheidungsfindung überfordert ist, sich Rat und Expertise seiner umfangreichen, gut bezahlten Administration zunutze macht. Ist das ministeriale Personal ebenfalls überfordert? Ist es unwillig? Oder ist der Gesundheitsminister selbst unwillig, beratungsresistent oder unfähig eine derartige Organisation so zu führen, dass aus der konzentrierten gesundheitspolitischen Kompetenz am Ende vernünftige Ergebnisse resultieren? Ich weiß es nicht. Ich kann nur darüber spekulieren. Aber gleichgültig, welcher dieser möglichen Gründe zutrifft, fällt das Urteil über Spahns Ministerleistung nicht gut aus. In seiner schlechten Amtsführung kann ihm nur noch Verkehrsminister Andreas Scheuer Konkurrenz machen.

Es spricht nicht für unsere demokratische Kultur, wenn man sich mittlerweile als höchster Staatsdiener fast jeden Fehler erlauben darf, ohne als Konsequenz mit allem Anstand zurückzutreten. Scheuer und Spahn, zwei Politiker, die man noch dem Nachwuchs zumisst, setzen mit ihrem Verhalten neue Maßstäbe, zumindest dann, wenn man ihnen das durchgehen lässt. Will sich aber die gesammelte Mannschaft der Spitzenpolitiker nicht einem fortschreitenden pauschalen Politikerverdruss aussetzen, wäre nicht nur die Opposition gut beraten, Spahn den Rücktritt nahezulegen. Sowohl die Union als auch die Regierung sollten in den eigenen Reihen für mehr Qualität, Demut und Pflichtbewusstsein sorgen. Chorgeist ist hier fehl am Platz. Die Summe der „kleinen“ Fehler ist die Lunte, die Spahn selbst gelegt und zu verantworten hat. Sie reicht meiner Meinung nach mittlerweile auch ohne Bewertung der Entscheidung zur Maskenverteilung aus, um Spahn zum Rücktritt zu bewegen oder gar zu entlassen.

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