Wer bin ich, und was kann ich?

„Wer ich bin und was ich kann, ist nicht abhängig von diesem Titel. Was mich als Mensch ausmacht, liegt nicht in diesem akademischen Grad begründet.“

Mit diesen Worten legte bereits im Herbst vergangenen Jahres die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) ihren Doktortitel wegen Plagiatsvorwürfen vorsorglich ab. Nun, mit Beginn des Wahlkampfes um das Amt des regierenden Bürgermeisters beziehungsweise Bürgermeisterin von Berlin ist der Zeitpunkt gekommen, in die Offensive zu gehen und dem kurz bevorstehenden offiziellen Titelentzug zuvor zu kommen.

Giffey tritt von ihrem Ministeramt zurück und stürzt sich in den Wahlkampf, um im September regierende Bürgermeisterin von Berlin zu werden. Wie muss man das bewerten? Viele Menschen konnten ihr Statement im vergangenen Herbst gut verstehen. Die allermeisten Bürger haben schließlich keinen Doktortitel und fühlen sich dennoch nicht als weniger leistungsfähig oder gar als ein schlechterer Mensch. Giffeys Standpunkt klingt im ersten Moment sympathisch und volksnah: Eine Ministerin, die als Mensch und nicht als akademische Titelträgerin wahrgenommen werden will. Das passt zum Klientel einer mitte-links orientierten Volkspartei – sofern man im Falle der SPD noch von einer solchen reden kann. Doch so einfach kann man Giffey mit diesem netten Versuch nicht davonkommen lassen. Zur Diskussion steht schließlich nicht, ob man als Ministerin promoviert sein muss. Vielmehr geht es darum, ob sich Giffey in rechtlich unzulässiger Weise mit fremden Federn geschmückt hat. Ihr Statement zum jetzigen Rücktritt vom Ministeramt, in dem sie es sich abschließend nicht nehmen ließ, nochmals darauf hinzuweisen, dass sie ihre Dissertation nach bestem Wissen und Gewissen verfasst habe, überzeugt mich jedenfalls nicht. Ich vermute vielmehr, dass sie sich auf diese Weise in die Rolle des Opfers einer hochnäsigen akademischen Elfenbeinturm-Elite begeben möchte. Das könnte ihr vielleicht sogar noch Pluspunkte bei der Bürgermeisterwahl verschaffen. Werfen wir doch einen kurzen Blick auf die Vorwürfe, die sie offenbar nicht ausräumen konnte.

VroniPlag Wiki, die seit Jahren wissenschaftliche Arbeiten von Politikern auf Plagiate hin untersuchen – also ob heimlich Textstellen von anderen Autoren kopiert wurden -, hat in Giffeys Dissertation 119 Passagen beanstandet. Die Zahl ist beeindruckend, wenn auch die Quantität allein noch kein abschließendes Urteil erlaubt.  Der Jurist Gerhard Dannemann bezeichnete Giffeys Doktorarbeit allerdings klar als Plagiat, und zwar mittlerer Schwere. Auf etwa 37 Prozent der 205 Seiten stellte er Verstöße fest, 11 Seiten davon seien zu 50 bis 75 Prozent mit Plagiatstext durchzogen. Das kann man wohl kaum noch als ein verzeihbares menschliches Versehen werten. Was ich aus der Distanz nicht beurteilen kann, ist, wie wichtig die entdeckten Plagiate für die Kernleistung von Giffeys Dissertation waren. Doch falls sie nicht so entscheidend sein sollten, schließt sich sofort die Frage an, warum sie dann die Stellen nicht als Zitate gekennzeichnet hat. Mir fallen da keine guten Gründe ein.

Wissenschaft hat in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Ein Doktortitel hat den Sinn, für jeden sichtbar zu machen, dass man hier eine besondere Leistung vollbracht hat. Deswegen ist man natürlich kein besserer Mensch und besitzt auch nicht automatisch auf anderen Gebieten irgendwelche Fähigkeiten, seien es handwerkliche, kommunikative, sportliche oder eben politische. Aber man verschafft sich mit dem Titel zweifelsohne einen Wettbewerbsvorteil in der beruflichen Karriere – und zwar nicht nur im Bereich der Wissenschaft. Auch wenn die Karriere nicht die eigentliche Motivation zur Promotion sein sollte, sondern ein Interesse an der Wissenschaft, so ist es kein Geheimnis, dass ein beträchtlicher Teil der Promovenden hauptsächlich genau darauf abzielt. Manche verführt das zu unlauteren Methoden, um Zeit zu sparen oder Fähigkeiten vorzutäuschen, die man nicht hat. Das reicht von der Inanspruchnahme eines Ghostwriters bis hin zu einem großzügigen Umgang mit fremdem geistigen Eigentum. Manchmal ist, wie sich im Fall des seinerzeit ebenfalls zurückgetretenen Verteidigungsministers zu Guttenberg vermuten ließ, sogar beides im Spiel – ein Ghostwriter, der auch noch bei anderen abgeschrieben hat.

Es ist nicht nötig, ein bahnbrechendes Werk zu verfassen, um wie Giffey ein Doctor rerum politicarum (Dr. rer. pol.) zu werden. Aber irgendeine kleine wissenschaftliche Erkenntniserweiterung muss die Dissertation per definitionem bringen. Zur Überprüfung dieser Leistung gibt es Regeln für wissenschaftliche Literaturarbeiten. An oberster Position nicht von anderen abzuschreiben, ohne die Stellen als Zitat kenntlich zu machen. Missachtet man diese Regel – und zwar nicht nur aus Versehen an ein-, zwei oder drei Stellen –, tut man dies wohl nur aus einem einzigen Grund: Zur vorsätzlichen Täuschung.

Doch anstatt wenigstens reumütig zu sein, so wie man das von jedem erwartet, der bei einer Mogelei erwischt wird, versichert Giffey, sie habe die Doktorarbeit nach bestem Wissen und Gewissen verfasst. Ich glaube, das kann sie nur in der Gewissheit verkünden, dass dies die Öffentlichkeit ohnehin nicht wirklich einzuschätzen weiß. Schließlich haben die allermeisten Bürgerinnen und Bürger keine Berührung mit dem Prozedere eines Promotionsverfahrens. Ich will in aller Kürze versuchen, einen Einblick zu geben. Die Prozedur der Promotion verläuft – wie ich aus eigener Erfahrung weiß – stets wie folgt: Man kennt als Promovend die Spielregeln wissenschaftlichen Arbeitens bereits aus dem Studium und beschäftigt sich auch während man die Doktorarbeit verfasst nochmals intensiv damit. Wenn man dann die sehr zeitaufwendige, in diesen Fachbereichen meist mehrere Jahre in Anspruch nehmende Dissertation fertiggestellt hat, reicht man sie mit einer eidesstattlichen Erklärung ein, die im Kern folgenden Satz beinhaltet: „Hiermit erkläre ich, dass ich die beigefügte Dissertation selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel genutzt habe. Alle wörtlich oder inhaltlich übernommenen Stellen habe ich als solche gekennzeichnet.“ Dieser Erklärung widersprechen nun die zahlreich identifizierten Textstellen in Giffeys Doktorarbeit in eindeutiger Weise.

Ungeachtet der Qualität einer Dissertation gilt der ethische Maßstab: Wer auf eine betrügerische Art und Weise zu Doktorehren gelangt, drängelt sich unfair an anderen vorbei und lässt die Welt glauben, man sei in dieser speziellen Hinsicht besonders leistungsfähig, ohne den ehrlichen Beweis dafür angetreten zu haben. Wie liest sich jetzt die Zeile aus Giffeys Statement „Was mich als Mensch ausmacht, liegt nicht in diesem akademischen Grad begründet“? Sich auf unfaire Weise einen Karrierevorteil zu verschaffen, hat offenbar sehr wohl etwas damit zu, was einen als Mensch ausmacht. Es handelt sich nämlich um nichts Geringeres als eine charakterliche Schwäche, wenn man zu derartigen Täuschungen bereit ist. Ein integrer Charakter ist aber ein Maßstab, an dem sich Politikerinnen und Politiker messen lassen müssen. Wenn man ihrem Wort nicht trauen kann, geht am Ende niemand mehr zur Wahl. Wir erfahren in den letzten Jahren immer intensiver, welche Gefahr ein solcher Vertrauensverlust für die Demokratie ist. Die Integrität der Amtsträger ist deshalb ein hohes Gut, das geschützt werden muss.

Man mag einwenden, dass doch angeblich jeder Politiker und jede Politikerin eine vergleichbare Leiche im Keller hat und man ohnehin niemandem trauen könne. Ich hoffe, dass dem nicht so ist. Und pauschale Generalverdächtigungen – auch das haben uns die letzten Jahre gezeigt – sind eine ebensolche Gefahr für die offene Gesellschaft. Unstrittig dürfte hingegen sein, dass konkret diejenigen, bei denen man tatsächlich eine Leiche entdeckt, die Tat dann auch verantworten müssen. Stattdessen wollte man der Ministerin zunächst nur eine „Rüge“ erteilen, obwohl so etwas in der Prüfungsordnung gar nicht vorgesehen ist – auch nicht für Bundesministerinnen. Ob ihr schließlich der Titel offiziell aberkannt wird, sollte ein neu zusammengesetztes Gremium 2021 entscheiden. Dieser Entscheidung ist Giffey nun zuvorgekommen. Damit reiht sie sich ein in sehr vergleichbare Fälle wie den des Verteidigungsministers zu Guttenberg (CSU) und der Bundesministerin für Bildung und Forschung Anette Schavan (CDU), die beide nach anfänglichem Zaudern ihre Ämter aufgaben. Auch sie beteuerten stets, nach bestem Wissen und Gewissen alles richtig gemacht zu haben. So läuft es wohl meistens, wenn ehrenwerte Menschen bei einer unehrenhaften Tat ertappt werden: Alles leugnen in der Hoffnung, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger die Details nicht klar nachvollziehen können. Und schließlich bei steigendem Druck „freiwillig“ zurücktreten, weil man angeblich „das Amt oder die Partei nicht beschädigen will“. Wie ehrenhaft! Die Überlegung, ob sie im Falle eines Sieges bei der Bürgermeisterwahl im September nicht ebenfalls das Amt, wenn auch ein anderes, beschädigt, scheint keine Rolle gespielt zu haben.

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