Es ist schon erschreckend, wie derzeit im öffentlichen Raum der Begriff „Freiheit“ verunstaltet und missbraucht wird. Offenbar wissen einige laute BürgerInnen gar nicht, worum es sich dabei handelt. Die Geschichte der bürgerlichen Freiheit, die im Großen und Ganzen mit der Aufklärung einhergeht, scheinen sie jedenfalls ebenso wenig zu kennen, wie die sozialphilosophischen Konzepte, die sich dahinter verbergen. In der Staatsphilosophie wird seit Jahrhunderten – nicht zuletzt von Hobbes, Kant, Rousseau und Rawls – unter dem Stichwort „Gesellschaftsvertrag“ („Social Contract“, „Contract Social“) diskutiert, welchen Regeln sich freie BürgerInnen einverständlich unterwerfen sollten, um darunter frei von Willkür leben und sich möglichst frei entfalten zu können.
Wir sprechen heute in offenen, liberalen Gesellschaften von einer „Verfassung“, die in Deutschland „Grundgesetz“ heißt. Sie verdient ihren Namen, wenn sie unter Berücksichtigung berechtigter Interessen, inklusive der Garantie von Menschenrechten und rechtlicher Gleichbehandlung, „verfasst“ wurde und nach rationalen Argumenten allen BürgerInnen zum Vorteil gereichen soll. Man wird in der Realität natürlich niemals eine konkrete Zustimmung aller BürgerInnen bekommen können. Hier muss man sich auf eine ausgewogene Delegation von integren, erfahrenen und weisen Gesellschaftsmitgliedern verlassen, die sich zudem in der Geschichte und der Rechtsphilosophie auskennen. Den Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich, Großbritannien und auch Deutschland ist das vor dem Hintergrund aufklärerischen Gedankenguts gelungen, um nur ein paar der eindrucksvollsten Beispiele aus der Geschichte der Demokratie zu nennen.
Unser Grundgesetz betont neben der Garantie der Menschenrechte, zu denen auch die körperliche Unversehrtheit gehört, den Wert der Freiheit außerordentlich stark: Meinungs- und Pressefreiheit; Freiheit der Kunst und der Wissenschaft; Versammlungsfreiheit; Vereinigungsfreiheit; Freizügigkeit; Freiheit der Berufswahl; Gewerbefreiheit. Und wir haben eine funktionierende Gewaltenteilung mit einem unabhängigen Verfassungsgericht, eine Institution, die gegebenenfalls Gesetze auf ihre Verfassungskonformität überprüft. Wer die von der Verfassung garantierten Freiheiten einschränken will, braucht sehr gute Argumente. Derzeit betrifft das zum einen die Versammlungsfreiheit, indem präventive Einschränkungen und Auflagen für einen Ansteckungsschutz erlassen werden, und zum anderen die Meinungsfreiheit, indem man hemmungslosen Hasstiraden und irrsinnigen Verschwörungstheorien, die Menschenleben bedrohen, Einhalt gebieten will.
Nach einhelliger epidemiologischer Expertenmeinung ist zudem eine Impfpflicht die wirkungsvollste Methode zur Bekämpfung der Pandemie. Wer mit dem zunächst einmal berechtigten Argument protestiert, man habe das Recht, über seinen Körper selbst zu bestimmen, vergisst, dass selbst dieses Recht nicht immer konfliktfrei in Anspruch genommen werden kann, wenn das automatisch das gleiche Recht von Mitmenschen einschränkt. Wir kennen dieses ethische Dilemma bereits aus der langwierigen Auseinandersetzung um Schwangerschaftsabbrüche. Hier dürfen Schwangere auch nicht in ethischer Eindeutigkeit beliebig über ihren Körper bestimmen, weil das automatisch den Tod des schutzlosen Babys bedeuten würde. Jeder Vergleich hinkt bekanntlich. Doch eine ähnliche Wertekonkurrenz gibt es auch beim Thema Impfpflicht. Insbesondere für vulnerable Menschen können Impfungläubige, Impfängstliche, Impfgegner, Impffälscher oder gar Systemfeinde durch Nichtbeachtung der einschränkenden Regeln schnell zur existenziellen Bedrohung werden. Die Erstgenannten werden vielleicht noch verantwortungsvoll damit umgehen und sich angemessen rücksichtsvoll verhalten und auf bestimmte Freiheiten dann eben verzichten. Die Letztgenannten tun dies aber gewiss nicht, sondern präsentieren sich bewusst aggressiv.
Entgegen der Lesart manch Uneinsichtiger schränkt nicht eine willkürliche Regierung die BürgerInnen in ihrer Handlungsfreiheit ein, sondern der aggressive Virus. Und die Virusgefahr lässt sich leider nicht privatisieren. Sie bedroht jeden und fragt nicht nach der persönlichen Risikobereitschaft. Sie fordert daher als gesamtgesellschaftliche Bedrohung den staatlichen Eingriff. Die legitimierte Staatsgewalt hat sogar die Pflicht, Freiheitseinschränkungen in Form einer präventiven Verhinderung gesellschaftsschädlicher Handlungen zu gewährleisten. Hierfür steht ihr rechtlich die Option von geeigneten Ausnahmeverboten zur Verfügung. Selbstverständlich muss alles nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geschehen – übrigens ebenfalls ein wertvolles liberales Rechtsstaatsprinzip – was zugegebenermaßen Interpretationsspielräume offenlässt. Man kann sich mit innerer Überzeugung (intrinsisch) oder aus Furcht vor einer Strafe (extrinsisch) an die Verbote halten. Eine Gesellschaft wird realistischer Weise niemals bei allen BürgerInnen ein intrinsisches Einverständnis erlangen. Notfalls muss die Abschreckung durch Strafe wirken, was allerdings erfahrungsgemäß auch nicht bei allen fruchtet. So verhält es sich schließlich bei allen Ver- und Geboten. Dieses Zugeständnis muss selbst eine liberale Gesellschaft an die soziale Ordnung machen.
Diejenigen, die sich derzeit auf den Straßen plötzlich als Freiheits- und Widerstandskämpfer feiern, haben nichts Glorreiches an sich. Sie erinnern vielmehr an einen unreifen pubertären Haufen, der alles als überflüssige Freiheitsberaubung deklariert, was Handlungsspielräume auch nur ansatzweise einschränkt – gleichgültig aus welchen Gründen. Freiheit wird als Befreiung von allen Regeln missverstanden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Freiheit braucht Regeln. Und so mussten die gutgläubigen, optimistischen Politiker, die lange auf die Einsicht und Rücksichtnahme aller BürgerInnen setzten, bislang enttäuscht werden. Sie haben offenbar nicht mit denen gerechnet, die aus Wut, Trotz, Ignoranz, Überheblichkeit oder Geltungsbedürfnis sich zielstrebig genau gegen das wenden, was der Staat von ihnen erwartet. Jetzt wendet sich das Blatt langsam.
Widerstand gegen jede staatliche Autorität als Ziel an sich hat weder etwas mit Demokratie noch mit Freiheit zu tun. Wenn es der brüllenden Meute angeblich um Freiheit geht, ist das nur Blendwerk. Zwar ist es im demokratischen liberalen Paradigma bewundernswert, sich gegen selbstherrliche und tyrannische Herrscher, die vom Volk nicht legitimiert sind, aufzulehnen. So geschehen beispielsweise 1789 in Frankreich und 1989 in der DDR. Auch denjenigen, die in Staaten wie Belarus, Russland, Myanmar oder der Türkei im Namen der Befreiung von staatlicher Willkür und Tyrannei derzeit auf die Straße gehen, ist großer Respekt und Anerkennung zu zollen. Wie aber kann man deren Situation mit der heutigen unseres Landes vergleichen? Und wo um Himmels Willen sind die Parallelen zwischen den antipandemischen Schutzmaßnahmen und dem antikapitalistischen Schutzwall, die einige BürgerInnen im Osten des Landes suggerieren? Es gruselt mich, wenn ich derartige Vergleiche aus wutentbrannten Schreihälsen höre. Hier hat zumindest unser Bildungssystem, möglicherweise auch die Wiedervereinigungspolitik versagt. Diese Kritik müssen sich unsere PolitikerInnen wohl gefallen lassen.
Es gibt leider noch eine andere Gesinnungsgruppe, die sich systematisch unter die pubertierenden WutbürgerInnen mischt. Deren Mitglieder stecken allerdings nicht mehr in der Pubertät. Im Gegenteil. Sie besteht aus ewigen Zombies. Sie scheinen unsterblich zu sein, steigen aus ihren Gräbern, sobald sich ihnen eine Gelegenheit bietet, und nähren sich vom wallenden Blut der Arglosen, Ungebildeten und Vergessenen: Die Neonazis, ReichsbürgerInnen, Autonomen, QuerdenkerInnen, Demagogen und sogar einige dogmatische Naturheiler, Homöopathen und Anthroposophen, die sich im festen Glauben an die „Naturkräfte“ dem generellen Kampf gegen die moderne Pharmazie verschworen haben. Sie alle verdingen sich als Dompteure der Verführbaren und verschaffen sich mit deren Unterstützung eine überlaute Stimme.
Machen wir uns nichts vor. Eine liberale Demokratie ist nur unter dem Einfluss humanistisch geprägter Sozialisierung der Bevölkerung überlebensfähig. Sie erfordert ein Mindestmaß an Urteilsfähigkeit, die wissenschaftliche Erkenntnisse und historische Ereignisse nicht nach Belieben ignoriert, verdreht oder leugnet. Erst hierdurch wird auch die Idee der bürgerlichen Freiheit verständlich und verbindet sich mit der individuellen Verantwortung, einen persönlichen Beitrag zu leisten. Mit wachsenden individuellen Freiheitsgraden innerhalb einer Gesellschaft wächst auch die Pflicht für ein verantwortungsvolles Handeln. Verantwortung ist eine ethische Kategorie, ohne die keine freie Gesellschaft auskommt und die am Ende immer auch bei der Einschätzung endet, was eine gerechte Opferverteilung ist. Freiheit kann somit nicht losgelöst von Gerechtigkeitserwägungen verhandelt werden.
Freiheit ist ein sehr hohes Gut, aber kein fixer, absoluter Wert. Er muss interpersonell bemessen und in Relation zu anderen existenziellen Werten gesetzt werden, nicht zuletzt zum Wert der körperlichen Unversehrtheit. Damit gibt es leider auch keine eindeutige, pauschale Antwort auf die Frage, wieviel Freiheitseinschränkung aufgrund der Virusbedrohung „gerechtfertigt“ ist. In einer freien Gesellschaft ist der Diskurs hierüber zwar unerlässlich, doch er muss mit einer Entscheidung enden, die sachlich nachvollziehbar ist und von einer deutlichen Mehrheit mitgetragen wird. Ein vollkommener Konsens ist wünschenswert, aber in einer anonymen Großgesellschaft unerreichbar. Eine legitimierte politische Führung hat in Situationen wie der aktuellen Pandemie die Pflicht, einen möglichst großen Lösungskonsens herbeizuführen. Doch aus falsch verstandener Toleranz ausgerechnet solchen Minderheitsgruppierungen Freiräume zu überlassen, die in der Geschichte Freiheits- und Menschenrechten die größten Verletzungen angetan haben, ist selbstzerstörerisch und absurd. Auch das ist eine falsch verstandene Freiheit.