Dauerbaustelle Rente

Auf ein Neues. Der Fokus der politischen Auseinandersetzungen in Berlin liegt mal wieder auf dem Thema Rente. Seit Jahrzehnten bricht sich die Rentenproblematik turnusmäßig Bahn zu den obersten Plätzen der bundespolitischen Agenda. Gelöst wurde sie bislang nicht. Und es steht zu befürchten, dass auch dieses Mal nicht mehr dabei herauskommt als ein paar oberflächliche Schönheitsoperationen, welche vor den nächsten Wahlen die Bürger vorerst beruhigen sollen. Warum kommt man in dieser Sache einfach nicht weiter, obwohl doch die Rechenlogik denkbar einfach ist?
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TTIP – alles kann, nichts muss

Der Streit um das transatlantische Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) TTIP geht in die nächste Runde. Wirtschaftsminister Gabriel erklärte kürzlich die Verhandlungen für gescheitert, woraufhin er sowohl von Seiten der USA als auch der CDU auf spontanen Widerspruch stieß. Die Sachlage zu diesem Freihandelsabkommen ist vielschichtig und kompliziert, weswegen man selbst nach 14 Verhandlungsrunden über drei Jahre hinweg noch keine Einigung erzielen konnte. Ob ein Abschluss, der zwangsläufig auch Kompromisse enthalten muss, unter dem Strich mehr nützen als schaden würde, lässt sich schwer einschätzen. Das gilt umso mehr, wenn die Inhalte des Vertrages nicht offen kommuniziert werden.
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Lessons of Brexit: Grenzen direkter Demokratie

Geschichte ist nicht prognostizierbar. Wie wahr dieser Satz ist, zeigt der Volksentscheid der Briten für den Ausstieg aus der Europäischen Union. Nicht prognostizierbar heißt natürlich nicht, dass man im Nachhinein nicht gute und plausible Erklärungen vorbringen kann, wie es dazu kommen konnte. Ich will hier nicht all die klugen Versionen und Thesen wiederholen, die in den letzten Tagen durch die Presse gingen und immer noch dem geschockten Publikum, zu dem gewiss auch eine Menge Briten gehören, präsentiert werden. Von einer „deutlichen“, „eindeutigen“, ja „klaren“ Entscheidung war anfangs die Rede. Das scheint mir jedoch bei einem Wahlausgang von 51,9 % zu 48,1 % ein vorschnelles Urteil und nicht angemessen zu sein. Wäre der Entscheid tatsächlich so eindeutig gewesen, verbände sich nicht soviel gesellschaftlicher Sprengstoff mit ihm.

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Der Fall Böhmermann: Max und Moritz oder Michel aus Lönneberga?

Ein deutscher Satiriker schreibt ein grottenschlechtes Gedicht, und in der Türkei fällt das Staatsoberhaupt vom Stuhl. Das hat schon einen eigenen Witz. Dem Lausbuben Böhmermann droht nun die Staatsgewalt. Das erinnert an Wilhelm Buschs Max und Moritz, die es mit ihren schlechten Scherzen einfach zu weit getrieben haben und am Ende bitter dafür zahlen mussten. Kennt der junge Böhmermann die Moritaten von Busch etwa nicht mehr? Jetzt musste er erstmal flüchten und sich irgendwo verstecken – vielleicht in einen Holzschuppen, wo er Figuren schnitzt, bis die Luft wieder rein ist, so wie einst Michel aus Lönneberga. Der hatte allerdings immer gute Absichten bei seinen Missgeschicken. Wie verhält sich das bei Böhmermann? Eher wie bei Max und Moritz oder wie bei Michel?
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Nicht nur ein Skandal: Rücktritt des bestbezahlten WV-Managers

Ein Skandal, wie er seines Gleichen sucht. Betrug am Kunden, Schädigung von Mensch und Umwelt, Zerstörung von Ruf und Vertrauen, Gefährdung von Arbeitsplätzen und Vernichtung von Kapital. Ganz Deutschland wird unter diesem „Fehlverhalten“ zu leiden haben. Man muss wohl nicht darüber diskutieren, dass die Schuldigen hart bestraft werden sollten. Aber wer trägt die Schuld? Trotz Rücktritt ist sich der ehemalige Vorstandsvorsitzende Winterkorn „keines Fehlverhaltens bewusst“. Mit Jahresbezügen jenseits von 15 Millionen Euro war er Deutschlands bestbezahlter Manager. Auch mit Selbstzweifel und Berufsethos scheint sein „Rücktritt“ wenig zu tun zu haben. Wollte er doch noch Tags zuvor nichts von einem solchen hören. Erst die anschließende Aufsichtsratssitzung gab das Amt schlagartig frei.

Obwohl einige Indizien und Erfahrungen dagegen sprechen, halte ich es immerhin für möglich, dass Winterkorns Äußerung, er habe von der Softwaremanipulation, mit der 11 Millionen VW-Dieselfahrzeuge die Abgastests beschönigt haben, sogar wahr sind – sagen wir lieber etwas vorsichtiger: einer Art Wahrheit entsprechen. Jedenfalls möchte man ihm soviel Skrupellosigkeit und vor allem so viel Dummheit, ein solches Risiko bewusst einzugehen, nicht zutrauen. Doch selbst unter dieser wohlwollenden Annahme war es richtig, dass Winterkorn zurücktreten musste. Und das gilt nicht nur deshalb, weil er als Chef formal die Verantwortung für einen Skandal dieser Größenordnung zu übernehmen hat. Winterkorn hat sich selbst als Unwissender auch inhaltlich zu verantworten, weil es in seinem Unternehmen überhaupt möglich und in gewisser Weiße opportun war, einen Betrug dieser Größenordnung zu organisieren, und weil sein unverhältnismäßig hohes Gehalt gerne damit gerechtfertigt wurde, dass der Unternehmenserfolg schließlich seinen persönlichen Stempel trage. Doch in dieser Logik muss er auch für die Macken in seinem Stempel verantwortlich gemacht werden. Und wie sieht es dann mit seiner Erfolgsbilanz aus?

Wenn man die zig Milliarden, die dem Konzern nun für Strafen, Regressansprüche sowie Börsenwert- und Imageverlust verloren gehen, abzieht, dürfte davon nichts mehr übrig bleiben. Ist rückblickend betrachtet der Manager Winterkorn vor diesem Hintergrund seine 15 Millionen Euro pro Jahr Wert gewesen? Wohl kaum. Die Umsatzbeteiligungen an verkauften Dieselfahrzeugen, die gewiss auch in den kassierten Jahres-Boni versteckt sind, schon mal gar nicht. Und die Abfindung, die vermutlich 30 Millionen Euro betragen wird, ist einem anständigen Bürger ohnehin nicht mehr zu erklären.

Zumindest hierzulande wird gegen Winterkorn entgegen erster Falschmeldungen kein formelles Ermittlungsverfahren geführt. Die Ermittlung läuft stattdessen gegen Unbekannt, was naturgemäß am Ende doch wieder zu Winterkorn führen könnte. Da brauchen wir wohl etwas Geduld und Vertrauen in die Staatsanwaltschaft und den Rechtstaat. Doch jenseits der juristischen Verantwortung gibt es noch ethische Aspekte, die den Staatsanwalt zwar vielleicht nicht interessieren, aber für unsere Gesellschaft durchaus von Relevanz sind. Zu überdenken sind einmal mehr riesige Managementgehälter sowie die ihr zugrunde liegende Philosophie autoritärer und streng hierarchischer Unternehmensführung. Letzteres ist im Grunde ein Überbleibsel eines veralteten betriebswirtschaftlichen Leitbildes, das eigentlich überhaupt nicht zu den modernen Idealen unserer Gesellschaft passt. Ohne hier alle Facetten dieser komplexen Thematik beleuchten zu können – was nicht heißen soll, dass ich sie überhaupt zielsicher und vollständig benennen könnte – will ich versuchen, kurz zu begründen, warum der vorliegende Skandal für mich mehr ist als nur ein Krimi. Er sollte uns Anlass geben, das Thema leistungsgerechte Bezahlung von Topmanagern grundsätzlich zu überdenken.

Auch wenn es gerne von entsprechender Seite suggeriert wird, gibt es keine plausible Methode, mit der sich nachweisen ließe, dass ein angestellter Vorstandsvorsitzender etwa 500 mal mehr leistet als ein Angestellter der unteren Ebene und deshalb auch 500 mal mehr Geld verdient habe. Die Herstellung einer quantitativen Relation dieser Art bleibt letztendlich willkürlich. Man kann folglich nur nach einem Konsens zwischen den Anspruchsgruppen suchen. Die Höhe des Gehaltes muss als gerecht empfunden werden. So wird kaum jemand bestreiten, dass es Leistungs- und somit auch Gehaltsunterschiede geben sollte und geben muss. Schon allein der zeitliche Mehreinsatz des Topmanagers könnte dies rechtfertigen. Das Ausmaß der Unterschiede ist allerdings nicht mehr konsensfähig. Wären nicht 10 Prozent dessen, also das maximal 50-fache ausreichend? Im Falle Winterkorn wären das beispielsweise 1,5 Millionen pro Jahr gewesen? Und wie steht es mit dem häufig vorgebrachten Argument, der Markt bestimme die Preise? Man könne auf dem Managermarkt keinen wirklich guten Kandidaten anwerben, ohne die so genannten „Marktpreise“ zu bedienen? Ich halte dieses Argument für weltfremd und vorgeschoben und gerade im Fall Winterkorn für widersprüchlich. Denn sagte er nicht selbst in seiner Rücktrittserklärung, „Volkswagen war, ist und bleibt mein Leben“? Er sagte eben nicht „mein Jahresgehalt von 15 Millionen Euro war mein Leben“. Ich glaube ihm das sogar, und aus Winterkorns Perspektive ist das Ganze sicherlich nicht wegen des Geldes ein schmerzliches und tragisches Ende seiner 22-jährigen Karriere bei VW.

Wahrscheinlich hat die Gehaltshöhe für einen Manager vom Schlage Winterkorn hauptsächlich Symbolwert, nach dem Motto: Je mehr man dem Aufsichtsrat entlocken und vor der Hauptversammlung vertreten kann, desto besser und wertvoller darf man sich fühlen. Die Gehaltsfindung folgt demnach eher einer umgekehrten Logik als nur der, die so gerne als Rechtfertigung vorgeschoben wird. So bestimmt nicht der ohnehin unberechenbare Wert des Topmanagers die Höhe seines Gehalts, sondern umgekehrt: die Höhe des Gehalts legt den Wert des Topmanagers fest. Die resultierenden extrem hohen Bezüge, die keine logische Grenze kennen, manifestieren überdies ein Menschenbild, das nicht nur große Unterschiede zwischen den Lebensleistungen von Menschen suggeriert, sondern auch – was im vorliegenden Zusammenhang für uns von größerer Bedeutung ist – dass tausende Menschen und Prozesse von einzelnen besonders wertvollen Menschen zentral ferngesteuert werden können. Eine fatale und folgenreiche Fehleinschätzung, deren Anmaßung sich gerade beim aktuellen Abgasskandal zeigt, und zwar erst recht, wenn Winterkorn tatsächlich nichts von der Manipulation gewusst hat.

Wie ausgeprägt ein solches vermeintliches Marionettentheater im WV-System unter Winterkorn war, vermag ich als Außenstehender nicht in letzter Konsequenz zu beurteilen. Von Experten und Eingeweihten ist allerdings zu hören, dass Winterkorn das Unternehmen sehr autoritär und hierarchisch regiert habe. Ein solcher Führungsstil weißt nach modernen sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen erstens auf eine gewisse Selbstüberschätzung des Oberhauptes hin. Zweitens begünstigt er kritiklose Ja-Sager der untergeordneten Hierarchieebenen. Er bestraft Kritiker und Zweifler und belohnt diejenigen, die bedingungs- und bedenkenlos die Zielvorgaben des jeweils Vorgesetzten, der am Ende das Ober-Alphatier ist, verfolgen. Alle zwei Faktoren spielen vermutlich in der Entstehungsgeschichte des aktuellen Supergaus eine wichtige Rolle. Inwiefern sie auch in den anderen Autokonzernen, die ebenfalls die angegebenen Abgaswerte nicht eingehalten haben, eine Rolle gespielt haben, bleibt bei meiner Kenntnislage über die konkreten Unternehmenskulturen noch spekulativer. Dennoch ist es für mich schwer vorstellbar, dass ein Konzern derartig die ethische und gesetzliche Orientierung verliert, wenn er einen weitblickenden Vorstandsvorsitzenden besitzt, der nicht um jeden Preis eine kurzfristige Umsatz- und Gewinnmaximierungsstrategie durchpeitscht – sei es um als Branchenprimus zu glänzen oder ganz einfach um hohe Jahres-Boni zu generieren.

Wir kennen die Problematik ja bereits von der Bankenkrise, deren Protagonisten ihr Unternehmen ebenfalls sehr konservativ und autoritär geführt haben und gleichzeitig – wie etwa der ehemalige Deutsche Bank Chef Ackermann – nichts von den Verfehlungen seiner Bank gewusst haben will. Und Gleiches kennen wir auch vom ewigen Fifa-Chef Blatter. Immer zeichnet sich dasselbe Bild ab: Ein autoritärer Führungsstil und ein alter, selbstgerechter Mann, der von nichts wusste, aber brutalstmögliche Aufklärung verspricht. Winterkorn war sich nicht einmal zu schade, in seinem ersten Statement, als er offenbar noch glaubte bleiben zu dürfen, sein „Ehrenwort“, ich wiederhole: sein Ehrenwort, zu geben. Wer sich da nicht sofort an Barschels schamlose Worte erinnert fühlte, bevor jener endgültig baden ging, ist noch zu jung, um es miterlebt zu haben. Darüber hinaus sollten ein Konzernführer und sein Beraterstab wissen, dass das Ehrenwort eines Mannes, der gerade des Betruges bezichtigt wird, zunächst einmal nichts wert sein kann und nur das Signal sendet, das Publikum in seiner berechtigten Skepsis nicht ernst zu nehmen.

Sprachhüter sind noch überflüssiger als Denglisch

Da taucht sie plötzlich wieder auf: Eine Liste mit angeblich vermeidbaren Anglizismen, welche die Nordwestzeitung (NWZ) auch in diesem Jahr (Sonnabend, den 12. September 2015) wieder abgedruckt hat. Ich habe das bereits vor drei Jahren, als die NWZ die Liste schon einmal veröffentlichte, in der Kolumne „Denglisch for Runaways“ kritisiert. Die alphabetisch sortierten Wörter mit Alternativvorschlägen, die sich über eine ganze Seite erstrecken, ist wohl eine Auswahl der neuen Ausgabe des Buches  „Der Anglizismen-Index“, an dessen Herausgabe der „Verein Deutsche Sprache“, der „Sprachkreis Deutsch“ aus Bern und der „Verein Muttersprache“ aus Wien beteiligt sind.

Einverstanden, es gibt vor allem in der Werbung, den Schaufenstern und im Geschäftsleben eine Menge überflüssiger, unsinniger und bisweilen falsch verwendeter englischer Begriffe. Andererseits ist es meines Erachtens nicht minder falsch und überflüssig, wenn selbsternannte Sprachhüter die angeblich urdeutsche Sprache vor ihrem Untergang bewahren wollen. Sprache ist eine Institution, die einem permanenten Wandel unterworfen ist. Das galt in der Vergangenheit, und das gilt auch für die Gegenwart und Zukunft. Der Wandel richtet sich erstens nach der Notwendigkeit, neue Begriffe für neue Gegenstände und Sachverhalte finden zu müssen, zweitens nach der Bequemlichkeit der Anwender, die sich möglichst kurz und knapp verständlich machen wollen, und drittens natürlich auch nach Identifikationsbedürfnissen, womit man die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe signalisieren möchte. Wer einen „Anglizismen-Index“ herausgibt und – wie nun wiederholt etwa von der NWZ getan – in den Chor der Hütervereine deutscher Sprache einstimmt, verkennt die dezentrale Dynamik von Sprache, als deren Experten sie sich ausgeben. Schaut man sich nun die Liste, welche der Vermeidung von Denglisch dienen soll, einmal genauer an, gewinnt man allerdings den Eindruck, dass ihre Autoren sich entgegen ihrer Etikette nicht sehr tief mit der Materie befasst haben.

Es dürfte den Deutschhütern eigentlich nicht entgangen sein, dass unsere Sprache randvoll ist mit eingedeutschten fremdsprachlichen Wörtern. Insbesondere kommen – aufgrund der europäischen Geschichte – viele Begriffe aus dem Lateinischen oder Griechischen, manche auch aus dem Französischen. Einige dieser Begriffe sind allerdings so gut eingebürgert, dass ihr „Migrationshintergrund“ kaum noch zu erkennen ist. Und so ist es wohl zu erklären, dass auch die oberflächliche Herangehensweise der Liste-Autoren einige Alternativvorschläge zu den von ihnen kritisierten Anglizismen wiederum selbst nur eingedeutschte fremdsprachliche Begriffe sind, nur eben nicht aus dem Englischen: Das englische „level“ etwa durch das französische „Niveau“ zu ersetzen, macht meines Erachtens ebenso wenig Sinn wie „date“ durch „Rendezvous“. Und was an einem aus dem Lateinischen übernommenen „Termin“ grundsätzlich besser sein soll als das englische „date“, das im übrigen auch nur dem lateinischen „datum“ entlehnt ist, erschließt sich mir ebenso wenig wie die Anmahnung, man solle doch anstatt „easy“ beispielsweise „simpel“, das lateinische Wort für „leicht“, benutzen, das wiederum – wenn auch etwas anders geschrieben – auch im Englischen existiert, aber dort etwas ganz anderes meint. Auch der Vorschlag der Sprachreiniger, man könne anstelle des Anglizismus „uncool“ das Wort „uninteressant“ benutzen, verkennt nicht nur den inhaltlichen Unterschied, sondern übersieht abermals, dass es sich hierbei um eingedeutschtes Latein handelt: „inter“ für „zwischen“ und „esse“ für „sein“ (Interesse zu haben, bedeutet somit, mitten dazwischen zu sein, also voll bei der Sache).

Ich persönlich fand die größte Widersprüchlichkeit der Liste bei dem Wort „Handy“, welches doch bitte „Mobiltelefon“ genannt werden solle. Dabei ist dieses Wort keinesfalls deutscher als die Bezeichnung „Handy“. Man kann sogar das Gegenteil behaupten. Erstens kommt der vordere Teil des Wortes, „Mobil“, aus dem Lateinischen und heißt nichts anderes als „beweglich“. Zweitens setzt sich der hintere Teil „telefon“ aus dem altgriechischen „tele“, für „fern“ und dem lateinischen „fon“ (phon), womit „Ton“ oder „Laut“ gemeint ist, zusammen. Ein „bewegliches Fernlautgerät“ müsste es auf Deutsch also wenn schon denn schon heißen. Klingt lustig, wird sich mit seinen 9 Silben aber gegen ein knackiges zweisilbiges „Handy“ schon aus rein pragmatischen Gründen vermutlich nicht auf der Straße durchsetzen. Drittens ist der Begriff „Handy“ als Bezeichnung für ein Mobiltelefon dem Engländer oder Amerikaner gänzlich unbekannt und eine rein deutsche Erfindung, gewissermaßen also urdeutsch – die Schreibweise mal außer Acht gelassen. Viertens stammt das englische Wort „handy“, was ganz allgemein „handlich“ heißt, letztendlich ohnehin von der deutschen „Hand“ ab. Sein Recycling – oh, Entschuldigung: seine Wiederaufbereitung – für die deutsche Sprache ist also durchaus naheliegend.

Man könnte so weiter machen. Für unsere Zwecke mögen die Beispiele ausreichen. Was kann man daraus schlussfolgern? Richtig, Sprache ist lebendig – zumindest solange sie gesprochen wird. Sprachen können sich im Laufe der Zeit genauso wie Völker vermischen. Und Reinrassigkeit braucht man in der Sprache ebenso wenig wie bei den Genen. Die teilweise Vermischung von Sprachen geschieht natürlich nicht ganz willkürlich, sondern hängt von geschichtlichen Zusammenhängen ab. Dass in der Vergangenheit Deutsch – wie viele andere europäische Sprachen auch – von lateinischen Begriffen durchdrungen wurde, lag vor allem daran, dass sie aufgrund römischer Vorherrschaft über viele Jahrhunderte Weltsprache der europäischen Herrscher, Gelehrten und Wissenschaftler war. Heute ist die Sprache internationaler Dispute Englisch. Während aber Latein praktisch gar nicht mehr gesprochen wird, ist Englisch gleichzeitig eine Weltsprache, die nicht nur auf die Oberschicht beschränkt ist. Im Gegensatz zu Latein taugt Englisch daher nicht als Identifikationsmerkmal der bildungsbürgerlichen Oberschicht. Hinzu kommt, dass Deutschland ein Land ist, das wirtschaftlich und kulturell sehr weltoffen, mondän (französisch), global (latein, englisch) ist und daher viele Bundesbürger viele Berührungspunkte mit der englischen Sprache haben. Es liegt nahe, dass in einer solchen Situation eine Menge Anglizismen entstehen. Und daran kann eigentlich nichts Schlechteres sein als in früheren Jahrhunderten die Invasion lateinischer Begrifflichkeiten. Es muss also etwas anderes hinter dem Ärger der Sprachhüter stecken.

Worum es bei der ganzen Debatte wirklich geht, ist vermutlich Folgendes: Wer sich über die Anglizismen und das so genannte Denglisch aufregt, zählt für gewöhnlich zum Bildungsbürgertum. Dort ist die Nutzung von lateinischen, griechischen oder französischen Fremdwörtern nicht nur geduldet, sondern sie gehört sogar zum guten Ton. Wer sie zu gebrauchen weiß, unterstreicht seine (humanistische) Bildung und signalisiert die Zugehörigkeit zur Identifikationsgruppe der Akademiker, der Wissenschaftler, der Kopflastigen, der angesehenen mitunter wohlhabenden Oberschicht und kann sich gegenüber der weniger vornehmen und gebildeten Bevölkerung durch unverständliche lateinische Fremdwörter abheben. Wer sich pragmatischer Kurzformen, die der plakativen englischen Sprache entlehnt sind, bedient, signalisiert hingegen eher eine Ignoranz bildungsbürgerlicher Werte. Hier stehen sich also vor allem die Identitäten zweier gegensätzlicher sozialer Schichten gegenüber und wahrscheinlich auch die Ideale der alten und der neuen Welt.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich dann auch, warum selbst abgehobene altsprachliche Fremdworte, die gar nicht der Verständigung, der ureigentlichen Funktion von Sprache, dienen, sondern sie eher verhindern, selten der Kritik der Sprachgelehrten ausgesetzt sind, während Anglizismnen pauschal kritisiert werden, obwohl sie kurz und prägnant formuliert häufig sehr gut von den meisten verstanden werden – vielleicht mit Ausnahme einiger schon recht betagter Mitbürger.

Fazit: Englisch ist auch nicht schlechter als Latein. Der Maßstab zur Beurteilung von Sprache sollte vor allem sein, inwieweit sie verstanden wird. Es bleibt jedem Einzelnen selbst überlassen, welche Begriffe man verwendet. Eine pauschale Vorschrift – und sei es auch nur eine Liste voller „Vorschläge“, mit der man unterstellt, es bestünde grundsätzlich ein weit verbreitetes Interesse an der Vermeidung von Anglizismen, ist anmaßend. Man kann selbstverständlich in jedem Einzelfall über den Sinn und Unsinn eines bestimmten Begriffs diskutieren. Oder man benutzt diejenigen Begriffe, die einem nicht gefallen, einfach nicht. Ich jedenfalls nehme mir diese Freiheiten heraus.

Sinn und der Unsinn des Homo oeconomicus

Der gelernte und gewiefte Volkswirt Hans-Werner Sinn fühlte sich im Herbst letzten Jahres dazu berufen, für die derzeit immer heftiger kritisierte Volkswirtschaftslehre eine Lanze zu brechen. Sinn ist Präsident des viel zitierten ifo-Instituts in München, seine Äußerungen gehören hierzulande zu den meist beachteten. Doch sein Rettungsversuch in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 31. Oktober 2014 unter dem Titel „Der große Irrtum“ muss als gründlich misslungen gewertet werden.
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Jedes Jahr den Jackpot

Der Vorstandsvorsitzende der Volkswagen AG Martin Winterkorn erhielt für 2011 Gesamtbezüge von 17,4 Millionen €. Und auch die übrigen Mitglieder des VW-Vorstandes haben mit einer runden Verdoppelung ihrer Bezüge 2011 zwischen 7,2 und 8,1 Millionen € eingestrichen und liegen damit sogar deutlich über dem Durchschnitt von Vorstandsvorsitzenden der übrigen DAX-Unternehmen. Winterkorns Bezüge sind gar um 63 % angestiegen und lagen doppelt so hoch wie der am zweitbesten bezahlte deutsche Vorstandsvorsitzende Dieter Zetsche von Daimler. Der gesamte VW-Vorstand wurde 2011 mit über 70 Millionen € entlohnt.

Da stellt sich für viele Bundesbürger die Frage, ob diesem Betrag noch eine entsprechende Leistung zugeordnet werden kann. Ist diese Bezahlung tatsächlich gerecht vor dem Hintergrund des Gehaltsgefüges in unserer Gesellschaft? Man muss ja nicht unbedingt den Vergleich zu den allerniedrigsten Löhnen zu suchen. Ziehen wir stattdessen einmal das Einkommen eines begehrten Facharbeiters von etwa 50.000 € pro Jahr heran, dann ergibt sich ein Verhältnis von 1 : 350 zum Einkommen Winterkorns und circa 1 : 150 zum Einkommen der übrigen VW-Vorstandsmitglieder. Vergleicht man Winterkorns Bezüge mit dem bereits recht hohen Gehalt eines studierten Angestellten im mittleren bis oberen Management, der zwischen 100.000 € und 150.000 € verdient, kommt Winterkorn immer noch auf das rund 150-fache.

Im Selbstverständnis des VW-Vorstands als diejenigen, welche die Arbeit (-splätze) vergeben, als sogenannte „Arbeitgeber“, scheint sich ein solch hohes Gehalt allein dadurch zu rechtfertigen, dass man schließlich mit dem Unternehmenserfolg begehrte Arbeitsplätze schaffe. Aus der Perspektive der Arbeitnehmer, die ja gewiss zum Erfolg beigetragen haben, könnte sich der Verdacht aufdrängen, dass ein paar wenige Herren in der Chefetage (Damen dürfen dort bekanntlich nur in Ausnahmefällen oder neuerdings per Quotendruck rein) sich von tausenden zum Teil hochqualifizierten Arbeitnehmern ein üppiges Gehalt erwirtschaften lassen, und zwar ohne Haupteigentümer zu sein. Aus dieser Perspektive wird es sie wohl nur wenig beruhigen, dass Winterkorn allen Angestellten eine Einmalzahlung von 7.500 € spendiert. Wenn jeder im Unternehmen ohne Ansehen seiner Stellung und seines Vorjahresgehalts 7.500 € bekommt – was an sich eine schöne Geste ist -, warum sollte sich dann nicht auch der Vorstand auf diesen Bonus beschränken? Das wäre ein großes Signal für den vielbeschworenen Mannschaftsgeist. Doch der Teamgedanke macht vor den Pforten der Vorstandsbüro halt.

Laut einer FORSA-Umfrage ist nur gut ein Viertel (26 %) der Bevölkerung mit den Millioneneinkommen von Topangestellten großer Konzerne grundsätzlich einverstanden. Für fast alle Bundesbürger sind Jahresbezüge, die auch nur annähernd an die hier diskutierten heran kommen, außer per Lottogewinn, ein Leben lang unerreichbar. Wenn man jung ist, träumt man häufig noch davon und überschätzt seine tatsächlichen Chancen mitunter maßlos. Es wundert mich deshalb nicht, dass laut FORSA die Zustimmung mit steigendem Alter stetig sinkt.

Die Unerreichbarkeit für den Einzelnen ist zwar kein Kriterium für die Leistungsgerechtigkeit. Sie kann aber eines für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den sozialen Frieden sein. Man sollte deshalb diese Dimension nicht nur aus ethischen Gründen stets im Auge behalten, sondern auch dann, wenn man auf Nachhaltigkeit Wert legt. Der Rückkoppelungseffekt auf den Erfolg eines großen Konzerns wie die Volkswagen AG sollte nicht unterschätzt werden.

Aber selbst wenn man die Millionengehälter nur rein unter dem Aspekt der Leistungsgerechtigkeit betrachtet, so bleibt eine bittere Wahrheit: Es gibt keine Methode, mit der wir berechnen können, welches Gehalt der Leistung eines Vorstandvorsitzenden im Jahr XY angemessen ist, wie viel er im wahrsten Sinne des Wortes „verdient“ hat. Das Wort „angemessen“ kann sich im Grunde nur auf ethische Gebote beziehen. Doch die begünstigten Top-Manager und deren Anhängergemeinde verweisen an dieser Stelle lieber auf die Gebote des Marktes. Demnach entspreche ein Einkommen genau dann einer Leistung, wenn es sich durch Angebot und Nachfrage frei einstelle – so wie bei allen Marktpreisen. Als Volkswirt und leidenschaftlicher Anhänger von offenen Märkten und freiem Wettbewerb stimme ich diesem Grundsatz freier Preisbildung gerne zu. Doch ich sehe im Falle der Millionengehälter von Topmanagern in Aktiengesellschaften eher das Symptom von Wettbewerbsbeschränkungen als das Ergebnis eines offenen Leistungswettbewerbs.

Selbstverständlich will ich den Vorständen der börsennotierten Aktiengesellschaften nicht absprechen, Führungsqualitäten, Erfahrung und gute Fachkenntnisse zu besitzen. Dafür sollen sie auch mehr verdienen als jeder andere im Unternehmen. Doch wenn der Gehaltsunterschied dem Leistungsunterschied entsprechen soll, wie kann dieser eigentlich ermittelt werden? Eine hohe Beteiligung am Unternehmenserfolg, die zu solch großen Unterschieden in den Bezügen führt, ist noch lange keine leistungsgerechte Bezahlung, die über den Markt ermittelt wurde. Wer vermag schon zu beziffern, wie stark genau der Absatzerfolg auf Entscheidungen und Persönlichkeit der Unternehmensleitung zurückgeht. Das kann man nicht. Das bleibt Spekulation – ex ante wie ex post. Dieser Argumentation stimmen Vorstände im Angestelltenverhältnis leider nur zu, wenn es um Regelungen zur Beteiligung an Verlusten geht. Allein Eigentümerunternehmer tragen auch das Verlustrisiko. Hier haftet der Chef unter Umständen mit seinem gesamten Hab und Gut, und zwar selbst für den Fall, dass er keine Schuld an eventuellen Verlusten trägt. Anders ist das bei angestellten Topmanagern insbesondere von Aktiengesellschaften. Hier gaben allen voran Bankvorstände ein schlechtes Vorbild ab, als sie selbst dann noch große Prämien kassierten, als ihnen ein gründliches Versagen nachgewiesen werden konnte.

 

Letzten Endes ist es das Wesen einer Unternehmung, dass sie als Kollektiv am Markt agiert. Ein guter Vorstandsvorsitzender versteht sich deshalb als Primus inter Pares, als erster unter Gleichen, der Chef eines Teams. Auf die Teamleistung wird bei VW ja auch immer gerne in Sonntagsreden verwiesen. Geht es dann aber um die Verteilung der Beute, tut man so, als sei der Markterfolg hochgradig auf den Vorstand zurückzuführen, während der Rest der Belegschaft letztendlich nur austauschbare Manövriermasse darstelle.

Auch das Argument, es handele sich um eine freie Vertragsgestaltung, es sei deshalb das Ergebnis von Angebot und Nachfrage auf dem Managermarkt, ist bei näherem Hinschauen nicht überzeugend. Die Gehaltsverhandlung führt schließlich der Aufsichtsrat, und entscheidend ist immer die Stimme des Aufsichtsratsvorsitzenden, der wiederum nicht nur die Interessen des Unternehmens, sondern auch seine persönlichen verfolgt. Ein Indiz dafür ist die in Deutschland geradezu übliche Praxis, dass man vom Vorstandsvorsitz als quasi letzte Beförderung direkt in den Aufsichtsratsvorsitz rutscht. Hier wird zu Recht seit Jahren kritisiert, dass in diesem Fall der für eine wirksame Kontrolle notwendige Abstand zur Unternehmensführung fehle. Das könne etwa zur Vertuschung von eigenen alten Fehlern oder der Aufrechterhaltung von Strategien, die man besser ändern sollte, führen. Nicht nur deshalb gehört es in diesen Kreisen – hier stärker, dort schwächer – zum ehernen Verhaltenskodex, dass Loyalität weit mehr als Leistung zählt.

Es ist unter Insidern bekannt, dass sich gewöhnliche Aufsichtsratsmitglieder trotz großzügiger Bezahlung häufig nur geringfügig oder gar nicht einbringen und im Wesentlichen nur abnicken, was der gönnerische Aufsichtsratsvorsitzende vorgibt. Wie könnte man auch sonst mitunter bis zu zehn solcher lukrativen Aufsichtsratsmandate wahrnehmen – eine durchaus übliche Praxis gut vernetzter Akteure. Die geringe Kontrollleistung des Aufsichtsrats bedeutet auch kein Risiko für die Ratsmitglieder. Eine Haftung für ihre Aufsicht ist faktisch ausgeschlossen. Die begehrte Mitgliedschaft für ein solches Gremium wird auf Arbeitgeberseite daher wie ein Privileg, ja wie ein kostbares Geschenk vergeben. Als Gegenleistung wird eiserne Loyalität gegenüber der so genannten „Deutschland AG“ erwartet. Nicht diejenigen, die tatsächlich kritisch und mit dem notwendigen zeitlichen Aufwand und Sachverstand Aufsicht führen könnten, sondern diejenigen, die loyal sind und fest zum inneren Kreis der deutschen Wirtschaftselite gehören, dürfen für ein ordentliches Salär teilnehmen und abnicken.

Schauen wir uns erneut das Beispiel VW an. Dort wird der Konzern schon lange beherrscht von Ferdinand Piech, Enkel von Ferdinand Porsche und Bruder des Schwiegersohns des ersten WV-Generaldirektors und Vorstandsvorsitzenden Heinz Nordhoff. Hier zeigt sich die Geschlossenheit der deutschen Führungselite in Reinform. Sie spricht gewiss nicht für einen stark leistungsorientierten Managermarkt. Nachdem Piech zunächst Karriere bei der VW-Tochter Audi machte und dort Vorstandsvorsitzender wurde, nahm er 1993 den Vorstandsvorsitz von VW ein. Seine erste Amtshandlung damals war die Anheuerung von José Ignacio López, der als Sklaventreiber der Zulieferindustrie in die Branchengeschichte einging. 2002 wechselte Piech dann direkt in den Aufsichtsratsvorsitz von VW, von wo er bis heute alles mit fester Hand regiert. Wer kann da noch an Leistungsgerechtigkeit glauben?

Abschließend noch ein Wort zu Einkommen, Motivation und Verantwortung. Es gilt heute in der Psychologie und der modernen Managementlehre als unstrittig, dass die Höhe des Gehaltes nur in bestimmten Einkommensbereichen und Situationen einen temporären Einfluss auf die Motivation von Menschen hat. Ob jemand eine halbe, zwei, 10 oder 20 Millionen € verdient, spielt für die Leistungsbereitschaft hingegen keine Rolle. Wenn wir den wichtigsten politischen Amtsträgern in unserem Land ein Gehalt zubilligen, das derzeit mit 261.500 € für die Bundeskanzlerin nicht einmal ein 60stel so hoch ist wie das von Winterkorn, kann an dieser Argumentation doch etwas nicht stimmen. Winterkorn selbst scheint die Höhe des Einkommens nicht als ursächlich für seine Leistungsmotivation zu sehen. Er begegnete den Vorwürfen mit dem Argument, dass er nichts für die hohe Summe könne. Die sei zustande gekommen, weil sein Einkommen zu großen Teilen gewinnabhängig sei und das Geschäftsjahr so gut ausgefallen wäre. Man möchte das Wort „zufällig“ hinzufügen. Sollten wir Winterkorns Gehalt dann nicht eher als eine Art Lottogewinn sehen?

Das Ende einer Boygroup: Die FDP verliert mit Lindner ihren besten Mann

Christian Lindner ist als Generalsekretär der FDP zurückgetreten. Man mag von der FDP halten, was man will, der mit 32 Jahren noch sehr junge Politiker ist seiner Beschaffenheit und seinem Charakter nach ein Politiker, den Deutschland braucht. Er ist intellektuell, kommunikativ, nicht dogmatisch, ernst aber nicht verbissen. Zudem hat er vernünftige Überzeugungen und zeigt sich als verantwortungsbewusst. Wie muss man nun seinen Rücktritt interpretieren?

Lindners eigene Erklärung wird von der Presse allgemein als zu kurz, abstrakt und wenig ergiebig bewertet. Das regt zur Spekulation an. Gewiss, da gab es ein wenig Druck wegen angeblicher Unzulänglichkeiten oder gar bewusst produzierter Unübersichtlichkeiten im Fragebogen des FDP-Mitgliederentscheids zur Eurorettung. Unter sonst intakten Umständen hätte das aber sicherlich nicht ausgereicht, um Lindner zum Rückzug zu bewegen. Seinen eigenen Worten konnte man entnehmen, dass dies eher der letzte Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte. Doch was war es, das da im Untergrund brodelte?

Die FDP steckt in der Krise. So weit nichts Neues. Allerdings kommt sie aus Ihrem Umfragetief trotz Wechsel der Parteiführung keinen Deut heraus. Was Rösler als Nachfolger des zu Recht gestürzten Guido Westerwelle bislang unternommen hat, ist nicht geeignet, das Images der Liberalen wieder aufzuhellen. Wie viel Verantwortung hierfür dem bisherigen Generalsekretär und Verbündeten Lindner zugeschrieben werden darf, lässt sich von außen kaum beurteilen. Möglicherweise gab es hier bereits Differenzen, die zur teilweisen Entzweiung der politischen „Boygroup“ geführt haben. Sollte das der Fall sein, könnte eine mögliche Differenz im Umgang mit der Mitgliederbefragung eine endgültige Vergraulung Lindners erklären.

Verfolgen wir eine zweite Spur, die man nicht unbeachtet lassen darf. Böse Zungen werfen Christian Lindner Illoyalität vor. Er distanziere sich jetzt, wo es ungemütlich wird, von der Parteispitze. Die TAZ drückt es in der Headline etwas positiver aus und schreibt: „Der Klügere geht zuerst.“ Man kann nicht ganz von der Hand weisen, dass Lindners Entscheidung, das sinkende Boot zu verlassen, bevor es untergeht, auch als eine persönlich kluge Entscheidung gewertet werden kann. Andererseits stellt sich dann die Frage, wo die Insel ist, auf die er sich angeblich retten will. Da muss sich Lindner zumindest auf eine Durststrecke einstellen.

Die Suche nach den wahren Gründen hellte sich auf mit Bekanntmachung des neuen FDP-Generalsekretärs Patrick Döring. Sowohl das langjährige enge Verhältnis zum Parteichef Rösler als auch die Art und der Charakter, mit dem sich der Neue präsentiert, lässt tief blicken. Ebenso die Geschwindigkeit, mit der Döring aus dem Hut gezaubert wurde, weist darauf hin, dass Rösler und Lindner bereits Differenzen miteinander hatten. Wenn es nun Döring, ein Mann, der ziemlich genau das Gegenteil von Lindner darstellt, richten soll, dann liegt es nahe, dass Lindners Auftreten als zu leise, zu philosophisch, zu sachlich empfunden wurde. Da kann man sich kritische Gespräche zwischen den langjährig befreundeten Weggefährten Rösler und Döring über ein anderes, aggressiveres und populistischeres Gebaren sehr gut vorstellen – Vorstellungen, die ein Typ vom Schlage Lindner natürlich nicht umsetzen kann. Ich glaube, dass hier die eigentliche Ursache für den Druck zum Rücktritt verborgen liegt.

Vor diesem Hintergrund kann man Lindners kurzes Statement sehr viel besser verstehen, als die Presse gemeinhin annimmt. Lindner sagte unter anderem:

„Es gibt den Moment, in dem man seinen Platz freimachen muss, um eine neue Dynamik zu ermöglichen. Die Ereignisse der letzten Tage und Wochen haben mich in dieser Einschätzung bestärkt. Meine Erkenntnis hat für mich zur Konsequenz, dass ich aus Respekt vor meiner Partei und vor meinem eigenen Engagement für die liberale Sache mein Amt niederlege. Dadurch ermögliche ich es dem FDP-Bundesvorsitzenden Philipp Rösler, die wichtige Bundestagswahl 2013 mit einem neuen Generalsekretär vorzubereiten und damit auch mit neuen Impulsen für die FDP zu einem Erfolg zu machen.“

Bleibt zum Schluss eine traurige Bewertung des Ganzen. Offenbar gilt nach wie vor, wer in der Politik erfolgreich sein will, muss auf die Tonne hauen und sich für keinen Populismus zu schade sein. In seiner Zeit als Generalsekretär unter Westerwelle war Lindner als ein gewisser Ausgleich zu seinem Pauken schlagenden Chef der richtige Mann. Doch mit Rösler ist das Team an der Spitze der Partei in der Summe scheinbar zu leise. Das Ereignis zeigt einmal mehr, dass jedes Volk die Politiker hat, die es verdient. Zumindest gilt das für die demokratische Mehrheit des Volkes. Für die sachlichen Argumente eines – wie ich meine – glaubwürdigen, klugen und verantwortungsvollen Christian Lindner ist unser System leider wenig empfänglich. Vielleicht ist Lindner – so bleibt meine Hoffnung – aber auch nur das Opfer einer desolaten und orientierungslosen Partei. In seinem Falle hoffe ich jedenfalls, dass er nur „vorerst gescheitert“ ist.

Sarrazins Wunderlampe

Man kann natürlich darüber streiten, ob überhaupt so viel über Herrn S. geschrieben werden soll. Der Leser wird es mir verzeihen, wenn ich heute noch nicht widerstehen kann und das Thema nochmals aufgreife. Es scheint funktioniert zu haben: Sarrazin hat an der Wunderlampe gerieben und, entsprechend seiner bekundeten Absicht, die Integrationsdiskussion unaufhaltsam angefacht. Jetzt fragen sich viele Bürger und Diskutanten, warum man diesem Mann so etwas vorhält, anstatt ihm dankbar dafür zu sein. Ich will darauf eine kurze Antwort geben, die sich auf das bezieht, worüber ich ausführlicher in meinem letzten Beitrag geschrieben habe. Und dabei muss man die Sprache sehr genau nehmen: Gewiss, Mr. S. hat mit seinen provokanten und teils entwürdigenden Thesen die „Integrationsdiskussion“ vorangetrieben. Das kann ihm keiner mehr streitig machen. Wird er aber – und darum geht es doch eigentlich! – auch die „Integration“ damit voranbringen? Nein, das wird er nicht.

Sarrazin belebt nur alte, zum Teil überwunden geglaubte Vorurteile auf beiden Seiten und vertieft so die Gräben. Seine Thesen bewirken leider vor allem, dass sich jetzt wieder diejenigen lautstark aus der Deckung wagen, die schon immer gegen eine Multi-Kulti-Gesellschaft waren, die die christliche Religion irrtümlicherweise für einen konstitutiven Bestandteil der offenen Gesellschaft halten, beziehungsweise eine Unvereinbarkeit von ihr mit dem Islam unterstellen, Deutschland für (Ur-)Deutsche reservieren wollen, sogar die aktuelle deutsche Multi-Kulti-Fußballnationalmannschaft ablehnen. Und sie unterstützen natürlich auch diejenigen, die am rechtsradikalen Rand nach Menschen fischen. Das wird sich darüber hinaus negativ auf den Integrationswillen stolzer Türken und Araber auswirken.

Es stimmt: die Integrationspolitik ist Jahrzehnte lang stiefmütterlich behandelt worden. Alles, was hier auf der großen Politikbühne geschah, ist halbherzig. Dort diente das Thema stets nur als Plattform für dogmatische Streitereien und die Emotionalisierung von Wählern. Darum geht es auch bei dieser Diskussion wieder. Und täglich grüßt der böse Geist, der so schnell nicht wieder in der Wunderlampe verschwinden will. Jetzt sollen sogar schon 18 % der Bevölkerung eine S-Partei wählen wollen, wenn es sie denn gäbe. Beten wir zu Gott oder Allah, dass der Prophet Sarrazin dieser Versuchung widerstehen und die SPD ihn festhalten wird! Sonst wird seine „satirische“ Prophezeiung eine sich selbst erfüllende.

Wo es nicht nur schlechte Erfahrungen, sondern auch erstaunliche Erfolge gibt, ist auf der Mikroebene, wo durch die Initialisierung von Selbsthilfeprojekten die Probleme und Motive von Immigranten ernst genommen werden. Da gibt es – auch in Berlin – wirksame und interessante Beispiele. Meister S. hätte sich in seiner Berliner Zeit für deren Verbreitung einsetzen können. Aber warum sollten Politiker an der stillen Beseitigung von Problemen arbeiten, mit denen sie sich auf der großen Bühne immer wieder profilieren können?