Vor ein paar Tagen wurde der diesjährige Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften an den Chicagoer Ökonom Richard Thaler vergeben. Seine empirischen Befunde und theoretischen Einsichten – so ist in der Begründung zu lesen – seien maßgeblich für die Schaffung des neuen und schnell wachsenden Gebiets der so genannten Verhaltensökonomie, die einen tiefgehenden Einfluss auf viele Bereiche der wirtschaftlichen Forschung und Politik gehabt habe, verantwortlich. Sein Hauptverdienst besteht mit einfachen Worten darin erkannt zu haben, dass es wichtig ist, in ökonomischen Modellen von realistischen Annahmen bezüglich menschlichen Verhaltens auszugehen. Und das bedeutet ein Ablassen von der Annahme, Menschen verhielten sich rational. Bis dahin bin ich voll auf der Seite Thalers und der Nobelpreis-Jury.
Wer ein wirtschaftswissenschaftliches Fach studiert hat, weiß sofort, was das Ungewöhnliche an Thalers Leistung ist. Alle anderen werden vermutlich stutzen und sich darüber wundern, wie man denn überhaupt auf die Idee kommen konnte, kein realistisches Menschenbild für die Modelle heranzuziehen. Einen gut dotierten Nobelpreis für die Erkenntnis vergeben, dass Menschen häufig keinesfalls rationale Entscheidungen treffen? Wer hat das nicht schon vor Thalers Forschungsergebnissen gewusst? Wer allerdings die Geschichte der ökonomischen Analyse kennt, weiß, dass die Mainstream-Ökonomik den so genannten „Homo oeconomicus“ heranzieht, eine Kunstfigur, der man vollkommene Rationalität und Egoismus unterstellt. Verhaltensökonomen wie Thaler sind hingegen daran interessiert, die typischen Irrationalitäten von Menschen aufzuspüren und das resultierende Menschenbild in den wirtschaftstheoretischen Modellen, aus denen mitunter politische Empfehlungen abgeleitet werden, anzuwenden. Er bedient sich dabei lobenswerter Weise auch der sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen Psychologie und Soziologie.
Ich begrüße die Distanzierung vom Homo oeconomicus außerordentlich. Ich greife dieses Thema seit Jahrzehnten häufig auf. Das letzte mal zu Beginn des Jahres 2015, als ich hierüber die Kolumne „Sinn und der Unsinn des Homo oeconomicus“ geschrieben habe (https://www.strategie-kommunikation.de/2015/01/30/sinn-und-der-unsinn-des-homo-oeconomicus/ ). Sie war eine Reaktion auf einen Zeitungsartikel des bekannten deutschen Ökonomen Hans-Werner Sinn, der dort die übliche Verteidigungsschrift zur Verwendung dieses unrealistischen Menschenbildes verfasst hatte. In meiner 1998 in der Schriftenreihe Wirtschaft und Ethik im Dialog (LIT-Verlag) erschienenen Dissertation „Menschenbild, Moral und wirtschaftliche Entwicklung“ habe ich ebenfalls mit umfangreichen Argumenten aus psychologischer und soziologischer Forschung einen Frontalangriff auf den Homo oeconomicus unternommen und mir damit nicht nur Freunde gemacht. Glücklicherweise hatte ich Professoren, die mich und meine kritische Haltung schützten. Viele prominente Wirtschaftswissenschaftler sahen und sehen aber noch immer die Verwendung des Homo oeconomicus als eine methodische Notwendigkeit und lehren den alten „Modellplatonismus“, wie ihn der kritische Rationalist Hans Albert einmal genannt hat.
Mit dem Nobelpreis von Thaler ist aber noch nicht der Durchbruch zu einem neuen Paradigma der Wirtschaftswissenschaften gelungen. Und das liegt auch am Programm des frisch gebackenen Nobelpreisträgers. Thaler hält leider weiter an der alten Vorstellung fest, klar definieren zu können, wann eine Entscheidung rational ist und wann nicht, mit dem Unterschied, dass er diese gerne korrigieren möchte. Seine Befunde über menschliche Irrationalitäten haben ihn dazu veranlasst, Politikern wie Obama zum – von ihm so bezeichneten – „Nudging“ zu raten. Hiermit ist gemeint, Entscheidungsgrundlagen von Menschen so zu beeinflussen, dass sie sich rationaler verhalten. Man kennt solche Versuche von hässlichen Bildern auf Zigarettenpackungen, Plakaten an Autobahnen, die unvorsichtigen Autofahrern Risiken und Verantwortung ins Gedächtnis rufen sollen oder von der Forderung, die Qualität von Lebensmitteln mit einer Ampel auf der Verpackung zu bewerten. Was als rational angesehen wird, bestimmen dann Politiker, Beamte und bestenfalls Wissenschaftler. Doch sind das letztendlich auch nur Menschen, die sich ebenfalls irren können oder sich letzten Endes vielleicht von ganz anderen Motiven leiten lassen als dem, der Gesellschaft zu dienen. Bei Zigaretten mag die Schädlichkeit noch unbestritten sein. Bei Fett und der angeblichen Vorzugswürdigkeit von fettreduzierten Lebensmitteln oder Diabetikernahrung sieht das schon anders aus. Und warum werden Schnapsflaschen, dessen gesundheitsschädlicher Inhalt ebenfalls unstrittig ist, nicht auch mit hässlichen Bildern von Leberzirrhosen und ähnlichem beklebt? Wenn man wiederum all diese Irrationalitäten durch Nudging eindämmen will, werden die Konsumenten schnell abstumpfen.
Während der eben angesprochene Kritikpunkt also eher ein Problem der politischen Praxis ist, kommt noch ein Diskussionspunkt hinzu, der die wissenschaftliche oder wissenschaftstheoretische Ebene betrifft. In Thalers Konzepten besteht nach wie vor die Unschärfe zwischen positiver und normativer Theorie, also dem Unterschied zwischen der Frage, was ist, und was soll sein? Geht es darum, typisches menschliches Verhalten zu verstehen, realistisch abzubilden und auf dieser Grundlage die Wirkungsweise eines institutionellen Ordnungsrahmen zu analysieren? Oder geht es darum, Ansatzpunkte zu finden, wie und wo man Menschen manipulieren kann, um sie – bestenfalls mit guter Absicht – zu ihrem Glück zu zwingen, weil man zu wissen glaubt, was das beste für sie ist? Es gibt meistens Gründe, warum Menschen sich so oder so verhalten. Es ist nach meinen Erfahrungen, die ich über all die Jahre diesbezüglich gemacht habe, häufig zu vorschnell, ein Verhalten, das in der ex post Betrachtung zu suboptimalen Ergebnissen geführt hat, einfach als irrational zu bezeichnen.
Nach meiner Überzeugung erscheint vieles in einem anderen Licht, wenn man zunächst einmal akzeptiert, dass wir deswegen ständig Entscheidungen treffen müssen, weil wir in einer Welt voller Ungewissheiten leben und die Zukunft nicht berechenbar ist. Das hat insbesondere zwei Konsequenzen für die Beurteilung von Rationalität. Erstens: Wir treffen lieber Entscheidungen über bestimmte Strategien und Grundsätze, damit wir von der Fülle der Einzelentscheidungen nicht überfordert werden. Ist das tatsächlich irrational, nur weil es dann im Einzelfall nicht zum erwünschten oder optimalen Ergebnis führt? Zweitens: Man kann – und muss vielleicht sogar -Pläne für die Zukunft schmieden, doch heißt das nicht, dass diese auch aufgehen. Langfristige Investitionen, also sämtliche Anstrengungen, die man nur in Hinblick auf zukünftige Vorteile unternimmt, tragen unter Berücksichtigung der Ungewissheit immer das Risiko zu verpuffen. Das gilt nicht nur für die Aktivitäten klassischer Unternehmer, sondern grundsätzlich für jeden Menschen. Ich will diesen Gedanken anhand eines oft diskutierten Beispiels erläutern. Vertreter des Nudging bezeichnen es als irrational, wenn Menschen nicht genug für die Rente ansparen. Doch was ist genug? Berücksichtigt man den Faktor Ungewissheit, indem man bedenkt, dass niemand weiß, wie alt man wird und schon deshalb nicht berechnen kann, wie viel Geld man als Rentner insgesamt benötigt, ja nicht einmal weiß, ob man das Rentenalter überhaupt erlebt, dann kann man es nicht per se als irrational bezeichnen, wenn Menschen dem Konsum in der Gegenwart einen höheren Wert zuordnen als einem Vielleicht-Konsum in ferner Zukunft. Hier spielen individuelle Präferenzen sowie subjektive Erwartung die entscheidende Rolle.
Des Weiteren wird von Ökonomen, die ausschließlich in der Kategorie Rationalität beheimatet sind, was eben auch das Interesse an Irrationalität einschließt, vergessen, dass unsere Spezies insbesondere von einer weiteren Kategorie geprägt ist: nämlich von der Emotionalität. Zwar treffen wir immer wieder Fehlentscheidungen, weil uns häufig emotionale Faktoren in die Quere kommen. Doch Emotionen sind weit mehr als ein unerwünschter Störfaktor für rationale Entscheidungen. Emotionen haben sich in der Phylogenese (Stammesgeschichte) des Menschen parallel zu dessen kognitiver Entwicklung entfaltet. Auch hier handelt es sich quasi um eine Strategie – eine Strategie der menschlichen Natur. Emotionen, die gewiss auch Unvernunft generieren, bringen in langfristiger Perspektive einen evolutorischen Vorteil mit sich. Es ist daher aus meiner Sicht nicht sinnvoll, ein realistischen Menschenbild von den wissenschaftlich identifizierten Irrationalitäten abzuleiten. Dem Menschen Dummheiten nachzuweisen, ist leicht. Ihn zu verstehen hingegen schwer.