Das Interview mit dem Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert (Die Zeit vom 2. Mai 2019, N°19, S. 8) hat für ein Aufhorchen gesorgt, aber für wenig Verständnis oder gar für Lorbeeren. Was man in den Nachrichten zu hören bekam, war schon recht abenteuerlich. Von der Kollektivierung großer Firmen wie BMW war die Rede. Und Wohnungen, die man anderen nicht vermieten dürfe, um sich an den Mietern zu bereichern. Als ich das hörte, war ich gespannt, welche neuen Argumente der Jungsozialist des 21. Jahrhunderts vorbringt, um die verstaubten und widerlegten Thesen der Altsozialisten, wonach staatliche Autorität und bürokratische Administration die Bevölkerung besser versorge als privates Unternehmertum und Wettbewerb. Also tat ich das, was man zur besseren Einordnung von Schlagzeilen und Kurzschilderungen immer tun sollte: Ich las mir das Original-Interview in der Printausgabe durch. Doch ich war enttäuscht von Kühnerts Argumentation. Die Statements des umtriebigen Nachwuchspolitikers waren so platt und so wenig durchdacht, dass jeder Sozialdemokrat alle Hoffnung auf einen Aufschwung seiner Partei durch eine Frischzellenkur verlieren muss. Da hätte eine tiefere Auseinandersetzung mit den großen Denkern unserer Kulturgeschichte den Juso-Vorsitzenden vor der Neuentdeckung vermeintlicher Lösungen schützen können – und die Sozialdemokraten vor weiterer Verwirrung.
Der bekennende Sozialist Kevin Kühnert will den Kapitalismus überwinden. Nun gut. Sind wir nachsichtig mit der hitzigen Jugend und großzügig in unserer Bewertung. Wenn man unter Kapitalismus ein System versteht, in dem die Reichen die Armen knechten, möchte man als gerechter Mensch und guter Demokrat zustimmen. Ebenso zustimmungsfähig mag die Pauschalaussage klingen: „Was unser Leben bestimmt, soll in der Hand der Gesellschaft sein und demokratisch von ihr bestimmt werden.“ Doch kann das das Grundprinzip einer freiheitlichen Gesellschaft sein? Wohl kaum. Freiheit kann doch nur bedeuten, im möglichst hohen Maß sein Leben selbst bestimmen zu können und sich nur dort von der Gesellschaft einschränken zu lassen, wo man ansonsten anderen das gleiche Maß an Selbstbestimmung versagt. Da wären wir bei einem der wichtigsten Vordenker der freien Gesellschaft angelangt, bei Immanuel Kant und seinem „kategorischem Imperativ“.
Gefragt nach seinem Verständnis von Sozialismus antwortet Kühnert: „… eine Welt freier Menschen, die kollektive Bedürfnisse in den Vordergrund stellt und nicht Profitstreben.“ Zwar mögen auch da noch viele sozial eingestellte Leser spontan mit dem Kopf nicken. Doch offenbart sich auch hier das fatale Missverständnis darüber, was Freiheit ist. Einverstanden: Maßloses Profitstreben ohne einschränkende Spielregeln ist grundsätzlich nicht wünschenswert. Einverstanden auch, dass in unserem Wertesystem jeder Mensch, jeder Bürger ein Höchstmaß an individueller Freiheit genießen sollte. Aber was meint Kühnert mit „kollektiven Bedürfnissen“, die in den Vordergrund gestellt werden müssten? Das klingt chinesisch, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht der Einzelne zählt, sondern nur das Kollektiv? Der unauffällige Nebensatz des kühnen Kevins offenbart einen grundlegenden Widerspruch zu den freiheitlichen Idealen der Aufklärung, die uns überhaupt erst zur modernen Demokratie, an der angeblich auch der Sozialist Kühnert festhalten möchte, geführt haben. Zwar definiert er seinen Sozialismus formal „als Ergebnis von demokratischen Prozessen, orientiert an unumstößlichen Grundwerte“. Was das für Grundwerte sind, sagt er aber nicht. Doch die sind entscheidend, wenn wir über das bessere Gesellschaftssystem diskutieren.
De facto gibt es keine „kollektiven Bedürfnisse“. Es gibt nur viele individuelle Bedürfnisse in einem Kollektiv. Bei denen mag es viele Übereinstimmungen geben, doch gerade im Detail, worin bekanntlich der Teufel steckt, gibt es eine Vielfalt von Vorlieben und Unterschieden. Also braucht man ausgeklügelte Verfahren, wie man diese individuellen Bedürfnisse bestmöglich bedienen oder Differenzen austarieren kann. Genau da fängt die „systemische“ Diskussion an, die Kühnert einfordert. Marktwirtschaft, die von kapitalistischen Grundprinzipien gar nicht zu trennen ist, ist eine Jahrtausende lang bewährte Methode hierfür, obgleich sie von Machtkonzentrationen, politischer wie wirtschaftlicher Art, immer wieder bedroht und gestört wurde und wird. Es gehören deshalb zu einem modernen kapitalistisch-marktwirtschaftlichen System Institutionen, die Machtkonzentrationen verhindern. Ansonsten entartet es. Adam Smith, der schottische Moralphilosoph und Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaften, erklärte in seinem bekannten Werk „Der Wohlstand der Nationen“ bereits kurz vor der französischen Revolution den sozialen Charakter einer freien, auf offenen Wettbewerb beruhenden Marktwirtschaft, die ohne eine zentrale Lenkungsinstanz „wie von unsichtbarer Hand gelenkt“ die Versorgung der Bevölkerung verbessert. Er kritisierte unter anderem die mächtigen Zünfte, die den Wettbewerb stark beschränkten und den Nachwuchs ausbeuteten. Gekoppelt mit modernen Gesetzen zur Machtbeschränkung von Marktakteuren, die mit dem US-amerikanischen Sherman-Antitrust-Act 1890 ihren Anfang nahmen, sowie der Begrenzung willkürlicher Eingriffe des Staates bietet die „Soziale Marktwirtschaft“ ein bis dato unübertroffenes Maß an individueller Freiheit, Vielfalt und Bedürfnisbefriedigung. Sozialismus ist hingegen der verhängnisvolle Glaube an zwei empirisch widerlegte Eigenschaften. Erstens: Eine zentrale Instanz wisse, was die Menschen brauchen, können und wollen – eben der Glaube an „kollektive Bedürfnisse“. Zweitens die naive Vorstellung, dass mächtige staatliche Amtsträger der Versuchung widerstehen können, ihre Macht zu missbrauchen.
In diesen Trugschlüssen – einer „Anmaßung des Wissens“, wie es der Sozialphilosoph und Ökonom Friedrich August von Hayek nannte – steckt bereits der Keim der Bevormundung und Unterdrückung. Karl Popper, einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, führt in seinem berühmten Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ die Tradition dieser Überschätzung staatlicher Instanzen sogar bis auf Platon zurück, dessen Überzeugung es war, dass die besten Könige die Philosophen wären, weil diese eben am weisesten seien. Popper, der stets zur intellektuellen Redlichkeit und Bescheidenheit mahnte, warnt deshalb vor den fantasiebeladenen Ideen seiner philosophischen Zunft und fordert sie zur Mäßigung auf. Stattdessen plädiert er für das Entwicklungsprinzip „Versuch und Irrtum“ (trail and error), einer von ihm so genannten „Stückwerktechnologie“, der „Technologie kleiner Schritte“.
Welche konkreten Schlüsse lassen sich nun allein aus diesen wenigen philosophie-geschichtlichen Schnappschüssen ziehen? Zum Thema Enteignung von BMW bleibt vollkommen unklar, warum in einem Markt, der eigentlich von hoher nationaler wie internationaler Konkurrenz gekennzeichnet ist und daher von einer Machtkonzentration nicht die Rede sein kann, warum man hier über Enteignung nachdenken muss und wem diese etwas nützen soll. Angebracht wäre dagegen eine Kritik an der Schutzpolitik für deutsche Autobauer seitens des Staates. Das Beispiel zeigt einmal mehr, dass eine Einmischung des Staates, die über eine allgemeingültige Ordnungspolitik hinaus geht, am Ende nicht gut für Gesellschaft ist.
Was das Thema Wohnungsnot angeht, so sollte sich der Staat auch dort auf ordnungspolitische Maßnahmen beschränken, also geeignete Rahmengesetze verabschieden und deren Einhaltung überwachen, bevor er wie im Fall des Flughafens Berlin-Brandenburg Milliarden an Steuergeldern versenkt. Wohnungsmangel bedeutet, dass es zu wenig Wohnungen gibt. Daran kann eine Verstaatlichung nichts ändern. Sie kostet nur Unsummen an Kapital, das der Staat besser in seine Kernaufgaben investieren könnte. Das Problem zu hoher Mieten entsteht, weil die Nachfrage in vielen größeren Städten das Angebot an Wohnraum weit übersteigt. Daran ist aber nicht der böse Kapitalismus schuld. Nur geeignete Rahmenbedingungen, für die die Politik sorgen muss, können das Problem lösen. Allerdings geht das nicht von heute auf morgen. Leider hat man sich nicht rechtzeitig darum gekümmert.
Die Kommunen brauchen jetzt gute Konzepte für eine lebenswerte Wohnraumverdichtung. Sie müssen zudem Genehmigungsverfahren beschleunigen und Bauland ausweisen, und zwar nicht um Höchstpreise beim Verkauf zu erzielen, sondern um Investoren zum Bau bezahlbarer Wohnungen zu verpflichten. Dafür lassen sich mit Sicherheit auch Investoren finden. Schließlich bietet allein die anhaltende Niedrigzinspolitik genügend Anreize für risikoscheue Anleger. Außerdem sollte man das Prinzip der Wohnungsbaugenossenschaft wieder stärker verfolgen. Das hat schon einmal in den 1960er Jahren geholfen, die Wohnungsnot zu beseitigen. Auch damals war es nicht notwendig und nicht zielführend, den Kapitalismus zu überwinden. Und meinetwegen kann man auch noch zur Überbrückung der aktuellen Überforderung vieler Mieter für die nächsten Jahre eine echte Mietpreisbremse einführen, die absolute Höchstgrenzen setzt, unabhängig von Renovierungsmaßnahmen. Auch dafür muss man nicht gleich den Kapitalismus abschaffen. Pauschale Kapitalismuskritik ist Klassenkampf. Eine differenzierte Kritik an bestimmten Regeln und Gesetzen oder kartellrechtlicher Praxis kann hingegen zu einer klugen Verbesserung unseres Systems führen, ohne dessen unbestreitbaren Errungenschaften zu ignorieren. Und wenn wir dabei im Sinne von Poppers „Stückwerktechnologie“ so vorgehen, dass man Bewährtes beibehält und ansonsten einen anderen systemkonformen Weg probiert, dann bewegen wir uns auf einem positiven Entwicklungspfad. Immer wieder auf den falschen Zauber der sozialistischen Idee hereinzufallen, die zwangsläufig an der Unvollkommenheit einer Verteilungsinstanz scheitern muss, führt hingegen nur zu alten Fehlern.